Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
kamen, lauschte belustigt den überspannten Schlagzeilen, die Zeitungsjungen überall ausriefen, und gönnte sich an einem der Zeltstände, die den Weg zur Absturzstelle säumten, sogar ein Ingwerbier, um sich in der morgendlichen Hitze ein wenig zu erfrischen.
    Als er die Stelle erreichte, wo der mutmaßliche Flugapparat aufgeschlagen war und ein riesige Loch in die Erde gegraben hatte, konnte er feststellen, dass Murray eine eindrucksvolle Arbeit gelungen war, denn der Flugapparat glich bis ins kleinste Detail dem aus seinem Roman. Eine ganze Weile betrachtete Wells den riesigen, wie eine gewölbte Scheibe geformten Flugapparat, den ein paar Jungen zaghaft mit Steinen bewarfen. Jetzt musste man nur noch sehen, was sich in seinem Innern verbarg, denn wenn Murray dieses Monstrum hierher geschleppt hatte, um Emma zu beeindrucken, dann würde er ihr hier auch eine Überraschung bieten wollen. Ob er den Marsmenschen wohl beiseiteließ und stattdessen versuchen würde, Emma zum Lachen zu bringen, wie Wells es ihm in dem Brief geraten hatte? Er konnte es nicht wissen, aber er würde das Ereignis auch nicht verpassen.
    Mit seinem Aussehen eines alten Mannes wäre er zwar kaum zu erkennen; dennoch hielt Wells sich ein wenig abseits vom großen Trubel, blieb dort, wo die furchtsameren Zeitgenossen standen, und schaute sich zufrieden um. Und dann sah er sich selbst – 33  Jahre jünger – mit Agent Clayton zusammen in der ersten Reihe stehen. Gerade zeigte Clayton mit seiner Eisenhand auf den Flugapparat, und der andere Wells, der einen Anzug mit gewagtem Karomuster trug, schüttelte skeptisch den Kopf. Ein gutes Dutzend Schritte rechts von den beiden gewahrte er Emma, deren unerhörte Schönheit sie wie ein schimmerndes Kristallgefäß umgab und vor der wogenden Menge gleichsam beschützte. Die junge amerikanische Dame, die im Gegensatz zu dem ersten Mal, als er sie gesehen hatte, keine Fremde mehr für ihn war, drehte ein Sonnenschirmchen auf ihrer Schulter und betrachtete die halb aus der Erde ragende Flugmaschine mit großem Ernst. Sie schien nur mit Mühe ihr Missfallen darüber zu unterdrücken, dass Murray sich nicht geschlagen geben konnte und das ganze Spektakel nur organisiert hatte, um sie zu erobern. Murray selbst jedoch konnte Wells nirgends entdecken, obwohl er in der Nähe sein musste und wahrscheinlich irgendwo – vielleicht im Wäldchen hinter der Wiese – den richtigen Moment für seinen Auftritt abwartete.
    Aber obwohl alles in Ordnung zu sein schien, alles genau so war, wie er sich erinnerte, spürte Wells eine unerklärliche Unruhe in sich aufsteigen. Er hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, dass etwas nicht stimmte, eine Kleinigkeit vielleicht nur, aber er wusste nicht, was es war. Er betrachtete die Szenerie mit erhöhter Aufmerksamkeit und versuchte herauszufinden, was ihn störte: Die Menschen drängten sich um den Flugapparat, Emma ließ nervös ihr Schirmchen rotieren, Agent Clayton sprach gerade mit dem zuständigen Polizeioffizier, genau wie Wells es vom ersten Mal her in Erinnerung hatte, und sein Doppelgänger stand – ein ironisches Lächeln auf den Lippen – in seinem neuen karierten Anzug vor dem Raumschiff vom Mars. Halt! Mit einem Anflug von Schrecken erkannte er, was nicht stimmte. Es war der Anzug. Es lief ihm kalt den Rücken hinunter, als er daran dachte, wie er diesen Anzug im Schaufenster seines Schneiders gesehen und sich gefragt hatte, ob das gewagte Muster elegant oder lächerlich war, und sich schließlich – auf Nummer sicher gehend – für einen dunkelbraunen Dreiteiler entschieden hatte, wie er ihn üblicherweise trug, und der auch das harmonische Farbenspiel in seinem Kleiderschrank nicht durcheinanderbrachte. Hier in Horsell hatte er ihn zum ersten Mal getragen. Sein Doppelgänger aber hatte den karierten Anzug gekauft und sich damit als verwegener erwiesen als das Original; und er war so dreist, in diesem Aufzug herzukommen, um den Flugapparat zu bestaunen.
    Wells beobachtete ihn ein wenig verstimmt über diesen kleinen Akt der Widerspenstigkeit seines Doppelgängers, der einfach improvisierte, anstatt sich an das Drehbuch zu halten. Er fragte sich auch, wie er das hatte tun können, ohne dass das Universum in Stücke ging oder wenigstens erbebte, so wie die Wasseroberfläche eines Teiches, in den man einen Stein geworfen hat. Der Schriftsteller musste auch an die kleine Narbe am Kinn denken; ebenfalls so eine Anomalie, der er keine Bedeutung beigemessen hatte.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher