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Die Landkarte des Himmels

Die Landkarte des Himmels

Titel: Die Landkarte des Himmels
Autoren: Félix J. Palma
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entreißen. Hin und wieder ging er ins Theater, allein um zu sehen, wie der elegante junge Mann die Gesellschaft mit seinem strahlenden Lächeln und ironischen Witz bezauberte; vielleicht aber auch, um das letzte Bild von ihm aus seiner Erinnerung zu löschen, als er ihn verdreckt und mit wirrem Haar, von grauenhaften Ungeheuern verfolgt, durch die Kloaken von London hatte hetzen sehen.
    Auch Murray und Emma hatte er retten können, Hauptmann Shackleton und seine geliebte Claire sowie Agent Clayton und den Kutscher, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnerte … Wo immer sie jetzt auch sein mochten, ob glücklich oder unglücklich, keiner von ihnen würde eine Invasion vom Mars erleben müssen. Aber was war mit ihren jeweiligen Doppelgängern in der anderen Wirklichkeit? War deren Welt auch verschwunden, im Nichts aufgelöst worden, als er den Gesandten am Südpol vernichtet hatte? Oder hatte seine Heldentat nur eine Verzweigung bewirkt, dem üppig wuchernden Baum der Zeit ein weiteres Zweiglein hinzugefügt? Befanden sich seine Gefährten immer noch auf irgendeinem Nebenweg des Universums, wo sie unter der Knechtschaft der Marswesen litten? Waren sie dort immer noch Gefangene der Außerirdischen? Daran glaubte Wells verständlicherweise lieber nicht. Als er den Gesandten getötet hatte, war jene Zeitschiene gewiss einfach im Nichts verlaufen. Wenn er sein Ohr an die Wände des Universums hielt, konnte er auf der anderen Seite keine Schmerzensschreie jener hören, die in der Hölle der Nachbarzeit festsaßen. Nein, dergleichen war niemals passiert.
    Es gab jedoch etwas, das diese Theorie zunichtemachte, und das waren seine Erinnerungen; seine Erinnerungen an die Invasion. Wie konnte er sich an etwas erinnern, das nie stattgefunden hatte? Wells hatte schon immer gern über die Existenz von ihm so genannter Parallelwelten spekuliert; neuer Welten, die nach jeder Entscheidung, die ein Mensch traf, entstanden, so unbedeutend diese sein mochte. Wenn ich heute zu Hause frühstücke, passiert mir nichts; gehe ich zum Frühstücken aber ins Coleridges, werde ich mir dort den Magen verderben, und diese Entscheidung wird zu einer Abzweigung in meinem Leben führen und mindestens zwei parallele Wirklichkeiten zur Folge haben, die zwar gleichzeitig existieren, von denen ich aber nur eine sehen kann. Mittlerweile zweifelte er nicht mehr daran, dass es diese Parallelwelten wirklich gab. Hätte er den Gesandten nicht getötet, wäre die Welt von den Marsmenschen überrannt worden; da er ihn aber vernichtet hatte, war die Invasion nie zustande gekommen. Aber … Hieß das, dass die Wirklichkeit der Invasion aufgehört hatte zu existieren? Nein, es wäre ziemlich vermessen zu glauben, etwas existiere nicht, bloß weil man es nicht sehen konnte. Die Invasion hatte es wirklich gegeben – dafür gab es reichlich Beweise –, und daraus folgte die logische Annahme, dass sie irgendwo immer noch existierte; in einer anderen Wirklichkeit als der, in der er jetzt lebte. Sosehr er sich also damit zu trösten suchte, dass er seine Gefährten gerettet hatte, wusste er im Grunde seiner Seele doch, dass dies nur eine Sichtweise von vielen war; eine, die ihm seine Schuldgefühle nehmen sollte. Für die in den Kloaken zurückgebliebenen Gefährten war er einfach nur auf rätselhafte Weise verschwunden, im Abwasserbecken ertrunken und von der Themse wer weiß wohin gespült worden. Keiner von ihnen würde je von seiner Heldentat erfahren, weil sie keine Auswirkung auf sie gehabt hatte …
    Dies schien die traurige Realität zu sein, und er würde lernen müssen, damit zu leben. Wells versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er wenigstens
eine
Welt geschaffen hatte, in der die Invasion niemals stattfinden würde. Er kniff wieder die Augen zusammen, wie er es sich seit seiner Zeitreise angewöhnt hatte, und verlor sich in Gedanken an die Invasion, die in seinem Gedächtnis abgelegt waren. Mit einem warmen Lächeln auf den Lippen erinnerte er sich an Gilliam Murray und daran, wie sich seine Meinung über ihn im Verlauf der Ereignisse geändert hatte. Es war kaum zu glauben, aber die Marsmenschen hatten dafür gesorgt, dass sein Hass sich allmählich zu etwas gewandelt hatte, das man nicht anders als als Achtung bezeichnen konnte. Da fiel ihm ein, dass sein Doppelgänger in ein paar Tagen einen Brief von Murray im Briefkasten finden und ihn mit ebenso zittrigen Fingern öffnen würde, wie er es in der Vergangenheit mit den Einladungen
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