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Die Landkarte der Liebe

Die Landkarte der Liebe

Titel: Die Landkarte der Liebe
Autoren: Lucy Clarke
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Fußpfad, der sich an der Klippe entlang nach oben wand. Der Boden war trocken, aber uneben, lose Steine brachten sie ins Stolpern. Ihre Ledersandalen drückten an den Seiten, und mit den glatten Sohlen hatte sie nicht genügend Halt. Das Blattwerk wurde immer dichter und schirmte das Mondlicht ab. Katie konnte nur hoffen, dass die Batterie der Taschenlampe durchhielt.
    Weiter oben wurde es allmählich kühler. Dann war von Westen her die Brandung zu hören, die Brise trug den salzigen Geruch heran. Kurz darauf führte der Pfad zu einem Aussichtspunkt. Katie blieb kurz stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Sie legte eine Hand auf das hölzerne Geländer und blickte auf das dunkle Meer. Der Mond warf seinen silbernen Schein über die Wellen.
    Wie sehr hast du die See geliebt! Du hast mir irgendwann erzählt, dass siebzig Prozent der Erdoberfläche von Ozeanen bedeckt sind. Und dann hast du mir davon vorgeschwärmt, dass das Meer sich ständig ändert, mal ist es spiegelglatt, dann das tosende Chaos. Vielleicht hat mir das in Porthcray solche Angst gemacht: Mir ist bewusst geworden, dass es sich nicht beherrschen lässt. Die See ist immer in Bewegung, unberechenbar – genau wie du.
    Katie wusste, dass sie nun genau an der Stelle stand, an der Mia den beiden Augenzeugen begegnet war. Im Geiste hörte sie, wie die Muscheln von Mias Kette rasselten. Weshalb bist du so gerannt? Hattest du Angst, du würdest deine Meinung ändern, wenn du stehen bleibst? Sie sah nach oben, zur Spitze. Das also haben die Zeugen gesehen. Du am Abgrund, kurz vor der Entscheidung, die alles ändern sollte.
    Katies Beine waren schwer vor Erschöpfung, doch sie zwang sich weiter. Sie war noch nicht am Ziel. Im Unterholz summten die Insekten. Büsche wucherten über den Pfad, Katie musste immer wieder trockene Zweige beiseiteschieben. Das dichte Gestrüpp verströmte Feuchtigkeit, ein satter, erdiger Geruch lag in der Luft.
    Katie schrie auf, etwas Scharfes hatte in ihr Bein geschnitten. Sie senkte den Strahl der Taschenlampe und sah Blut. Die helle, rote Wunde kurz unter ihrem Knie war dreckverschmiert. Sie hatte einen scharfen Felsen übersehen. Katie richtete sich auf und leuchtete suchend umher, doch sie sah keine weiteren Hindernisse, nur Dunkelheit. Sie lenkte den Strahl nach rechts über den Pfad hinaus auf Büsche und Felsen. Dann nichts – nichts als gähnender Abgrund. Der Weg verlief nur einen Meter vom Klippenrand entfernt. Nur noch wenige Schritte, und sie wäre gestürzt.
    Sie holte tief Luft, dann konzentrierte sie sich auf ihre Schritte. Zweimal rutschte sie aus und rettete sich, indem sie die Finger tief in die Erde bohrte, bis sie Halt fand. Jedes Mal, wenn ihre Nerven drohten, sie im Stich zu lassen, rief sie sich ins Gedächtnis, dass Mia diesen Pfad barfuß und ohne Taschenlampe erklommen hatte.
    Sie atmete heftig, das Terrain wurde steiler. Sie steckte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, schlang die Finger um einen Ast und zog sich hoch. Plötzlich frischte der Wind auf, und der Boden wurde eben. Sie hatte das Plateau erreicht.
    Sie hatte sich diesen Ort in ihrer Fantasie schon so oft ausgemalt, dass es ihr schien, als hätte die Klippe sie erwartet. Eine Reihe von Felsen ragte aus der kleinen grasbedeckten Ebene auf, die zum Meer hin abfiel. Über ihr am Himmel funkelten winzige, goldene Sterne.
    Katie hatte das unheimliche Gefühl, dass sie nicht allein war. Sie fuhr herum, ihr Kleid blähte sich auf und beschrieb mit der Taschenlampe einen Kreis. »Mia?«
    Aber nur der Wind, der sich seinen Weg über die Klippen bahnte, gab ihr Antwort. Katie kam sich albern vor. Die Wunde an ihrem Bein pochte, und eine unglaubliche Erschöpfung ergriff von ihr Besitz. Es war, als hätte dieser Aufstieg Monate gedauert, als hätte sie seit Mias Tod mit dieser Klippe gerungen, und nun trafen an diesem Ort Mias Vergangenheit und ihre, Katies, Gegenwart zusammen und wurden in denselben Strudel gezogen.
    Sie hatte sich ihr Bild von dem, was Mia widerfahren war, aus einzelnen Informationen zusammengewoben, die sie nach Belieben aus der Fülle herausgegriffen hatte. Auch das Tagebuch wusste nur einen Teil der Geschichte zu erzählen. Es gab Lücken, Ereignisse, die Mia nicht einmal den Tagebuchseiten anvertrauen, Gefühle, die sie auch sich selbst nicht eingestehen wollte. Katie hatte die Leerstellen mit ihren eigenen
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