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Die Kunst engagierter Gelassenheit

Die Kunst engagierter Gelassenheit

Titel: Die Kunst engagierter Gelassenheit
Autoren: Lukas Niederberger
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beispielsweise Krebskranke auf Chemo-Therapien und Bestrahlungen verzichten wollen und dadurch am eigenen Chirurgen-Ego kratzen. Und Lehrpersonen müssen akzeptieren, wenn ihre Muster- und Lieblingsschüler nicht aufs Gymnasium wollen, kein Studium ergreifen möchten oder gar die Ausbildung abbrechen.
    Am schwierigsten fällt die engagiert-gelassene Distanz wohl Eltern in Bezug auf ihre eigenen Kinder. Eine Bekannte schrieb mir vor zwei Jahren in einem Brief:
    »Lieber Luk, privat hat sich einiges getan: B., unsere 17-jährige Tochter, will ihre Berufsausbildung hinschmeißen. Natürlich hat sie – und wir natürlich auch – große Ängste, wie es weitergehen soll. Ich versuche mich aber mehr und mehr abzugrenzen. Ich muss lernen, dass ich ihr die Verantwortung ganz übergebe und mir keine Sorgen mache, wenn sie diese nicht wahrnimmt. Es ist ihr Leben, es sind ihre Entscheidungen und sie muss die Konsequenzen letztlich selbst tragen.«
    Besonders schwer fallen uns Distanz und Abgrenzung, wenn sich unsere Liebsten und Nächsten sukzessive zu Grunde richten, wenn etwa der Partner zur Flasche, die Partnerin zu Tabletten oder das eigene Kind zu Drogen greifen. Eine Frau erzählte mir letzthin, dass sie es extrem bereue, ihren arbeitslosen, alkohol- und drogensüchtigen Bruder jahrelang finanziell unterstützt zu haben, weil sie ihm dadurch die Selbstverantwortung raubte und in ihrem Helfer-Syndrom eine positive Veränderung höchstwahrscheinlich um Jahre verzögerte. Viele Angehörige und Freunde werden durch fehlende Distanz zu Suchtpatienten zu sogenannten Co-Abhängigen.
    Engagierte Gelassenheit zeigt sich speziell dort und dann, wo wir unsere Energie nicht zu sehr auf die Probleme anderer fokussieren, sondern Mut zu Grenzziehungen und sowohl die eigene Verantwortung als auch die Selbstverantwortung des Gegenübers respektieren und fördern. Engagierte Gelassenheit wird da spürbar, wo wir lernen zu lieben, zu sorgen und verbunden zu sein, ohne uns lähmen zu lassen und ohnmächtig zu werden.

    Da heute viele Menschen ein hohes Alter erreichen, pflegebedürftig werden und nicht mehr wie früher ein Dutzend Kinder haben, fragen sich immer mehr 40- bis 60-Jährige, wie weit sie etwa als Einzelkind mit Beruf und Familie für ihre Eltern konkret Verantwortung tragen können und dürfen, wollen und müssen: wirtschaftlich, rechtlich, moralisch und vom Gewissen her.

    Partnerschaft – Erotik – Mystik
    Die intensivste und herausforderndste Form von Nähe erleben wir in der Liebe und Beziehung zur Partnerin oder zum Partner. Wir wollen unsere Liebsten selbstverständlich zu den glücklichsten Menschen auf Erden machen, aber dürfen und können ihnen die Verantwortung für ihre eigene Zufriedenheit dennoch nicht ab- und übernehmen. Wenn ich jeweils Paare auf ihre Hochzeit oder Paarsegnung vorbereite, kommt immer auch die stimmige Nähe und Distanz in der Beziehung zur Sprache. Ich ermutige die Paare jeweils, dass sie die Bereitschaft zu stimmiger Nähe und das Bedürfnis nach nötigen Grenzen im Ehe-Versprechen explizit formulieren.
    Der Schlüssel zum rechten Maß von Nähe und Distanz liegt in der altbacken klingenden »Hingabe«. Neulateinisch klingt »devotion« oder »dedication« zweifellos attraktiver. Auch wenn wir heute nicht mehr eine Hingabe leben wollen und können wie mittelalterliche Ordensfrauen oder preußische Soldaten, die blinden Gehorsam gelobten, kann unser inneres Feuer nie wirklich lichterloh brennen, wenn wir uns nicht Menschen und Projekten, Idealen und Gemeinschaften voll
und ganz hingeben können. In der Hingabe geschehen zwei Dinge gleichzeitig: das Loslassen der Angst um unser kleines Ego und das Einswerden mit anderen. Das englische Wort »dedication« bedeutet Hingabe und Widmung. Wenn ich mich mit meiner Zeit und meinen Gedanken, meiner Energie und meiner Liebe, meiner Aufmerksamkeit und allen anderen Ressourcen ganz einer Person oder Sache widme und hingebe, kann ich mich nicht gleichzeitig beunruhigen lassen von zahllosen Wenn und Aber, Fragen und Zweifeln, Ängsten und Sorgen, Fixierungen und Erwartungen.
    Vor allem zwei Formen der Hingabe bilden die Krönung engagierter Gelassenheit: die Mystik und die Erotik. Ziel des mystischen Weges ist die restlose Verschmelzung und Einung mit Gott. Bei Bruder Klaus kommt dies in der berühmten Bitte zum Ausdruck: »Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.« Die Mystikerin Teresa von Ávila vergleicht die Vereinigung mit Gott ähnlich wie das
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