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Die Kunst engagierter Gelassenheit

Die Kunst engagierter Gelassenheit

Titel: Die Kunst engagierter Gelassenheit
Autoren: Lukas Niederberger
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kommentieren, hilft das, einen möglichst objektiven Text dazuzustellen.« (Mann, 38 Jahre)
    »Schwierig ist das Schreiben, wenn ich über Menschen berichte, die eigentlich besonders distanziert bis kritisch beleuchtet werden sollten und ich persönlich tief betroffen bin von der Begegnung. Wenn mir etwa ein junger Mörder von seinem Leben erzählt.« (Frau, 38 Jahre) »Der journalistische Grundsatz, alle Beteiligten eines Konfliktes mit ihren besten Argumenten abzubilden hat mir immer wieder geholfen, einen Schritt zurück zu tun und die Sache aus etwas mehr Distanz anzusehen. Zudem erlebte ich in den letzten 30 Jahren das Eingebundensein in ein kritisches Redaktionsteam als sehr hilfreich. « (Mann, 65 Jahre)
    »Eine Schwierigkeit in der journalistischen Arbeit ist die, dass meine Gesprächspartner mein Einfühlungsvermögen und meine Anteilnahme gerne mit Freundschaft verwechseln. Nach den Interviews muss ich ihnen oft klarmachen, dass ich nicht ihr Freund bin, sondern Journalist.« (Mann, 42 Jahre)
    »Ich stelle mir beim Schreiben jeweils den unbefangenen Leser vor, der noch nichts vom Fall gehört hat – und nicht von einem von Beginn an empörten Journalisten ins Thema eingeführt werden will. Hilfreich ist zudem das Gegenlesen durch unbefangene Kollegen.« (Mann, 38 Jahre)
    »Nach vielen Jahren Berufserfahrung gelingt es mir heute, in Gesprächen auch bei harten Schicksalen nur das für den Leser Interessante herauszuholen. Früher saß ich stundenlang da, hörte geduldig endlose Geschichten an und wurde irgendwann ungeduldig und sauer auf mich selbst.« (Frau, 38 Jahre)
    »Ich versuche, möglichst jede Geschichte so zu erzählen, dass sie auch jemand versteht, der sich noch nie mit dem Thema beschäftigt hat und über keine einschlägige Bildung verfügt. Das schafft beim Schreiben eine gewisse Distanz.« (Mann, 57 Jahre)
    Dass Distanz im Beruf nicht automatisch Professionalität bedeutet und dass Nähe nicht automatisch Unprofessionalität ausdrückt, zeigt sich nicht nur im Journalismus und in der Kunst, am Krankenbett und in der Sozialarbeit. Ein eindrückliches Beispiel las ich im Schweizer Straßenmagazin Surprise. Angela Montanile, die Chefin der Züricher Sittenpolizei, erzählte dort in einem Interview:
    »Klar lernt man bei der Polizei die Distanz zu wahren, aber wir sind auch nur Menschen. Was wir bei der Arbeit erleben, tragen wir mit uns. Das ist wie eine Festplatte, die immer voller wird. Beim Verarbeiten helfen Gespräche mit Arbeitskollegen, die interne Supervision und auch die Familie daheim oder Sport.«
    [Ref 9]
    Kranke Nähe, gesunde Distanz
    Seit mehreren Jahren steckt vor allem die katholische Kirche in einer tiefen Krise, weil in pädagogischen Institutionen und Pfarreien seit den 50-er Jahren massivste sexuelle und gewaltsame Übergriffe und Missbräuche durch Priester und Ordensleute verübt und von den Kirchenleitungen gedeckt und vertuscht wurden. Es waren vor allem zölibatär lebende Männer, die in großer emotionaler Nähe mit Kindern und Jugendlichen lebten, die Abhängigkeit und Machtdifferenz ausnützten und die Generationenschranke, die Würde und das Selbstbestimmungsrecht der schutzbefohlenen Minderjährigen ignorierten und verletzten. Gerade solche Extrembeispiele zeigen auf, dass engagierte Gelassenheit nicht nur eine tugendhafte Ergänzung für ein paar besonders Erleuchtete ist, sondern gerade
in Bezug auf die stimmige Nähe und Distanz eine notwendige Voraussetzung für alle professionellen Beziehungen darstellt.
    Der Missbrauch von Nähe hat gerade in sozialen und kirchlichen Berufen sowie in der Krankenpflege zu einer extremen Vorsicht im Kontakt mit anvertrauten Menschen geführt. Studierende in der Ausbildung für soziale Berufe und sogar für die Sterbebegleitung werden auf eine professionelle Distanz hin getrimmt, die einen normalen menschlichen Kontakt zu den Klienten und Patientinnen – oft bewusst ›Fälle‹ genannt – beinahe verunmöglichen.

    Sich abgrenzen und Verantwortung abgeben
    In der Pädagogik, in der Sozialarbeit und im Gesundheitsbereich ist die engagiert-gelassene Distanz nicht nur wegen der Gefahr von Übergriffen besonders wichtig, sondern auch weil die anvertrauten und schutzbefohlenen Schüler, Patientinnen und Klienten in der Beratung gern ihre Selbstverantwortung und Entscheidungen an die Fachleute und Spezialistinnen delegieren. Andererseits müssen Ärztinnen und Ärzte auch mit engagierter Gelassenheit akzeptieren können, dass
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