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Die Kunst engagierter Gelassenheit

Die Kunst engagierter Gelassenheit

Titel: Die Kunst engagierter Gelassenheit
Autoren: Lukas Niederberger
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obschon er mir im konkreten Einzelfall die Entscheidung über das gute Maß von Nähe und Distanz, Empathie und Abgrenzung natürlich nicht abnimmt.« (Mann, 62 Jahre)
    »Hilfreich für die Gratwanderung von Nähe und Distanz ist mein gleichzeitiges Stehen in mehreren Lebenswelten. Distanz gelingt mir, indem ich nicht vergesse, dass es noch andere Lebenswelten gibt, mit anderen Menschen, anderen Themen, anderen Erfahrungen und indem ich immer mal wieder in das jeweils ›andere Leben‹ hinüber wechsle, somit den Blick nicht verenge, mich vom einen auch mal ab- und dem anderen zuwende.« (Frau, 49 Jahre)
    »Ich glaube, dass mir diese Balance gerade hier in China immer besser gelingt. Hier sind Distanz und Abgrenzung besonders nötig, weil man leicht aufgefressen werden kann von den zahllosen Einsatzmöglichkeiten. Distanz-Nehmen ist hier ein notwendiger Selbstschutz.« (Mann, 52 Jahre)
    »Das rechte Maß von Nähe und Distanz gelingt mir, wenn ich zentriert den Tag mit Meditation beginne. Wenn ich im Einklang bin mit mir selbst, dann bin ich einerseits empathisch und andererseits so sehr im Selbstkontakt, dass ich mich auch nicht unbegrenzt verausgabe. « (Frau, 39 Jahre)
    Wie viel Nähe ist professionell?
    Je nach Beruf ist das richtige Maß von physischer und emotionaler Nähe und Distanz sehr unterschiedlich. Je größer die physische Nähe und das Machtgefälle zu Klientinnen und Klienten sind, umso mehr innere Klarheit und emotionale Distanz
sind erforderlich. Berufliche Distanz zum Gegenüber, zum Sachverhalt oder Objekt fällt einem Historiker, einer Ethnologin, einem Paläontologen, einer Astrophysikerin oder einem Systemtheoretiker wohl leichter als einem Richter beim Kriegsverbrecher-Tribunal, einer Notärztin oder einem Feuerwehrmann am Unfallort, einem Fußball-Schiedsrichter im WM-Finale oder einer Psychotherapeutin, die mit Sexualstraftätern arbeitet, einem Maler oder einer Komponistin. Speziell in drei Situationen fällt das optimale Maß von Nähe und Distanz schwer: bei großer eigener Betroffenheit, bei starker Empathie für oder bei außerordentlicher Abneigung gegen eine Person, mit der wir verhandeln, über die wir schreiben oder die wir unterrichten, beraten, heilen oder therapieren sollten. Weil sich die Frage nach sensibler Empathie und objektiver Distanznahme speziell im Journalismus stellt, habe ich einige KollegInnen zu dieser Spannung befragt. [Ref 8]
    Die Radio-Korrespondentin Iren Meier berichtete während des Balkankriegs in den 90-er Jahren fast täglich über den Genozid. Seit sieben Jahren berichtet sie aus dem Nahen Osten. Über die Gratwanderung eines gelassen-engagierten Journalismus schreibt sie:
    »Im Konflikt gibt es immer die Fronten. Als Journalistin bewegt man sich dazwischen, geht von einer zur anderen – mit der Frage im Hinterkopf: Wer hat Recht? Wer ist glaubwürdiger? Und da sind die ethischen Regeln des Berufes: sich nicht gemein machen mit einer Sache, mit einer Seite. Distanz wahren, drei Schritte zurück. Nicht Partei nehmen. Ausgerechnet in einem Konflikt
oder Krieg, wo es einen hineinzieht mit allen Sinnen, wo die überwältigende Wirklichkeit kaum Raum und Ruhe lässt für klares Abwägen und konzentrierte Reflexion. Es ist eine Illusion zu glauben, der Journalist könne mitten im Krieg der kühle, abgeklärte Beobachter bleiben. Wenn die zivile Ordnung des Lebens zusammenbricht, wenn sich die Abgründe des menschlichen Seins und Tuns öffnen, dann berührt und erschüttert das jeden und jede von uns, ungeachtet seiner oder ihrer äußeren Gefasstheit. Jeder einzelne ist in einer solchen Grenzsituation gefordert in seinem Beruf, seiner Professionalität, in seiner Persönlichkeit, in seinem Menschsein. Wir können den Ernstfall Krieg als Journalisten nicht üben, sondern werden hineingeworfen in eine Situation, die uns zu verschlingen droht. In der wir uns Schritt für Schritt orientieren und langsam vorantasten müssen. Es ist immer eine Überforderung. Wir sind ihr nicht gewachsen. Tun aber oft so.«
    Viele JournalistInnen erleben die Spannung zwischen Empathie und Distanz auch in der friedvollen Schweiz und betonen darum die Notwendigkeit der engagierten Gelassenheit:
    »Die Schwierigkeit zur objektiven Distanz erlebe ich bei besonderer innerer Empörung, etwa wenn ich auf Grund einer Recherche herausfinde, dass ein Politiker sich als Wendehals benimmt, unlautere Absichten hat und ich dies möglichst objektiv schildern muss. Kann man das Thema zugleich
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