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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Autoren: Carlos Castaneda
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wenn der Lehrling die abstrakten Kerne versteht, so ist es, als würde der letzte Stein auf die Pyramide gesetzt, der sie abschließt und krönt.«
    Es war dunkel geworden, und es sah aus, als wollte es wieder regnen. Ich fürchtete, wenn der Wind von Ost nach West wehte, würden wir in dieser Höhle bis auf die Haut durchnäßt. Ich war mir sicher, daß auch Don Juan dies bedachte, aber es schien ihm nichts auszumachen.
    »Bis morgen früh wird es nicht regnen«, sagte er.
    Daß ich erleben mußte, wie meine innersten Gedanken beantwortet wurden, ließ mich unwillkürlich hochschrecken - und ich schlug mit dem Kopf gegen die Höhlendecke. Es war ein Stoß, der sich schmerzhafter anhörte, als er war.
    Don Juan hielt sich den Bauch vor Lachen. Nach einer Weile begann mein Kopf zu schmerzen, und ich mußte ihn massieren. »Deine Gesellschaft ist so unterhaltsam für mich, wie die meine es für meinen Wohltäter gewesen sein muß«, sagte er und fing wieder anzulachen.
    Wir schwiegen ein paar Minuten. Die Stille um uns her war unheimlich. Ich bildete mir ein, das Rascheln der Wolken hören zu können, wie sie von den höheren Bergen zu uns herabglitten. Dann erkannte ich, daß es der sachte Wind war, den ich hörte. Von meinem Standort in der niedrigen Höhle hörte es sich an wie das Flüstern menschlicher Stimmen.
    »Ich hatte das unglaubliche Glück, von zwei Naguals unterwiesen zu werden«, sagte Don Juan, die hypnotische Faszination brechend, die der Wind in diesem Moment auf mich ausübte. »Der eine war natürlich mein Wohltäter, der Nagual Julian, und der andere war dessen Wohltäter, der Nagual Elias. Mein Fall war einmalig.«
    »Warum war dein Fall so einmalig?«
    »Weil die Naguals seit Generationen ihre Lehrlinge um sich versammeln, Jahre nachdem ihre eigenen Lehrer die Welt verlassen haben«, erklärte er. »Ausgenommen mein Wohltäter. Ich wurde Lehrling des Nagual Julian, acht Jahre bevor sein Wohltäter die Welt verließ. Es waren acht geschenkte Jahre für mich. Es war das Glücklichste, was mir widerfahren konnte, denn ich hatte Gelegenheit, von zwei entgegengesetzten Persönlichkeiten unterwiesen zu werden. Es war, als würde man von einem mächtigen Vater und einem noch mächtigeren Großvater erzogen, die sich niemals von Angesicht zu Angesicht begegnen. Bei solch einem Wettkampf gewinnt immer der Großvater. Also bin ich eigentlich das Produkt der Lehren des Nagual Elias. Ich war ihm ähnlicher, nicht nur im Temperament, sondern auch im Aussehen. Ich möchte sagen, ihm verdanke ich den letzten Schliff. Aber den größten Teil der Mühe, die auf gewandt wurde, um aus mir erbärmlichem Menschen einen makellosen Krieger zu machen, verdanke ich meinem Wohltäter, dem Nagual Julian.«
    »Wie sah der Nagual Julian eigentlich aus?« fragte ich.
    »Weißt du, daß es mir bis zum heutigen Tag schwerfällt, ihn mir bildlich vorzustellen?« sagte Don Juan. »Ich weiß, es klingt absurd, aber er konnte, ganz wie er wollte oder wie die Umstände es verlangten, entweder jung oder alt sein, hübsch oder häßlich, weibisch und schwach oder stark und männlich, fett oder schlank, mittelgroß oder sehr klein.«
    »Du meinst, er war ein Schauspieler, der mit Hilfe von Requisiten in verschiedene Rollen schlüpfte?«
    »Nein, es waren keine Requisiten im Spiel, und er war nicht nur ein Schauspieler. Gewiß, er war auch ein großartiger Schauspieler, aber das ist eine andere Geschichte. Tatsache ist, daß er sich verwandeln und all diese gegensätzlichen Personen sein konnte. Daß er ein großartiger Schauspieler war, befähigte ihn, all die winzigen Verhaltensmerkmale zu porträtieren, die jedes dieser Wesen so real machte. Man könnte sagen, daß er sich in jeder Person wohl fühlte. Ähnlich wie du behauptest, daß du dich in jeder Kleidung wohl fühlst.«
    Neugierig bat ich Don Juan, mir mehr über die Verwandlungen seines Wohltäters zu erzählen. Er sagte, daß jemand ihn gelehrt habe, diese Verwandlungen hervorzubringen; dies weiter zu erklären, würde sich allerdings mit anderen Geschichten überschneiden.
    »Wie sah der Nagual Julian aus, wenn er sich nicht verwandelte?« fragte ich.
    »Man könnte sagen, bevor er ein Nagual wurde, war er sehr schlank und muskulös«, sagte Don Juan. »Sein Haar war schwarz, dicht und gewellt. Er hatte eine lange und ausgeprägte Nase, kräftige, große und weiße Zähne, ein ovales Gesicht, breite Kinnladen und leuchtende, dunkelbraune Augen. Er war etwa einen Meter und
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