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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Autoren: Carlos Castaneda
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zu machen. Ich aber konnte diese abstrakten Kerne nicht begreifen - trotz seiner ausführlichen Erklärungen, die, wie ich heute weiß, eher beabsichtigten, mein Herz zu öffnen, als irgend etwas rational zu erklären. Seine Redeweise ließ mich jahrelang glauben, daß seine Erklärungen der abstrakten Kerne so etwas wie akademische Abhandlungen wären. Unter diesen Umständen blieb mir nichts anderes übrig, als seine Erklärungen wörtlich zu nehmen. Ich akzeptierte sie stillschweigend als Teil seiner Lehren, aber ohne jenes tiefere Begreifen, das ich benötigt hätte, um sie zu verstehen.
    Don Juan unterbreitete mir drei Gruppen zu je sechs abstrakten Kernen, angeordnet in der Reihenfolge zunehmender Kompliziertheit. Hier behandele ich die erste Gruppe, bestehend aus den folgenden: die Offenbarungen des Geistes, das Anklopfen des Geistes, die Täuschungen des Geistes, das Herabsteigen des Geistes, die Voraussetzungen der Absicht und die Durchführung der Absicht.
     

1. Die Offenbarungen des Geistes
     
     
     
     
     
Der erste abstrakte Kern
    Don Juan erzählte mir, wann immer es sich ergab, kurze Geschichten über die Zauberer seiner Schule, besonders über seinen Lehrer, den Nagual Julian. Es waren nicht eigentlich Geschichten, vielmehr Schilderungen, wie diese Zauberer sich verhielten, sowie Charakterisierungen ihrer Persönlichkeit. Diese Erzählungen dienten jeweils dazu, einen bestimmten Schwerpunkt meiner Lehrzeit zu beleuchten.
    Die gleichen Geschichten hatte ich auch von den anderen fünfzehn Mitgliedern der Zauberer-Gruppe Don Juans gehört, aber keine dieser Erzählungen konnte mir eine klare Vorstellung von den Menschen vermitteln, die sie schilderten. Nachdem ich Don Juan nicht dazu bewegen konnte, mir mehr Einzelheiten über diese Zauberer mitzuteilen, hatte ich mich damit abgefunden, niemals Genaueres über sie zu erfahren.
    Eines Nachmittags, in den Bergen Südmexikos, und nachdem Don Juan mir gewisse Feinheiten der Beherrschung des Bewußtseins erläutert hatte, machte er eine Äußerung, die mich sehr verblüffte.
    »Es wird Zeit, glaube ich, daß wir über die Zauberer unserer Vergangenheit sprechen«, sagte er.
    Don Juan erklärte, ich müsse meine Einsichten auf eine systematische Vorstellung von der Vergangenheit gründen - Einsichten sowohl über die Alltagswelt wie auch über die Welt der Zauberer. »Die Zauberer haben großes Interesse an ihrer Vergangenheit«, sagte er. »Ich meine aber nicht ihre persönliche Vergangenheit. Für Zauberer ist Vergangenheit das, was andere Zauberer in vergangenen Zeiten taten. Und diese Vergangenheit wollen wir beide jetzt untersuchen.
    Auch der Durchschnittsmensch untersucht die Vergangenheit. Meist aber ist es seine persönliche Vergangenheit, die er untersucht, und er tut es aus persönlichen Gründen. Die Zauberer tun genau das Gegenteil. Sie befragen ihre Vergangenheit, um einen Bezugspunkt zu haben.«
    »Aber tun das nicht alle? Betrachten wir nicht alle die Vergangenheit, um einen Bezugspunkt zu gewinnen?«
    »Nein!« antwortete er mit Nachdruck. »Der Durchschnittsmensch mißt sich an der Vergangenheit, an seiner persönlichen Vergangenheit oder am historischen Wissen seiner Zeit, um eine Rechtfertigung für sein gegenwärtiges oder zukünftiges Verhalten zu haben oder um sich ein Vorbild zu wählen. Nur die Zauberer suchen wirklich einen Bezugspunkt in ihrer Vergangenheit.«
    »Vielleicht, Don Juan, würden die Dinge klarer für mich, wenn du mir sagen wolltest, was für die Zauberer ein Bezugspunkt ist.« »Einen Bezugspunkt zu wählen«, antwortete er, »bedeutet für die Zauberer eine Chance, die Absicht zu untersuchen. Und genau dies ist auch der Zweck dieser letzten Phase deiner Unterweisung. Nichts kann einem Zauberer eine bessere Vorstellung von der Absicht vermitteln als die Untersuchung der Geschichten anderer Zauberer, die sich bemühten, diese Kraft zu verstehen.«
    Er erklärte, daß die Zauberer seiner Schule, wenn sie ihre Vergangenheit untersuchten, sehr wohl um die grundsätzliche Abstraktheit ihres Wissens Bescheid wüßten.
    »Bei der Zauberei gibt es einundzwanzig abstrakte Kerne«, fuhr Don Juan fort. »Außerdem gibt es, beruhend auf diesen abstrakten Kernen, unzählige Zauberei-Geschichten über die Naguals unserer Schule, die sich bemühten, den Geist zu verstehen. Es wird Zeit, daß ich dir die abstrakten Kerne und die Zauberei-Geschichten erzähle.«
    Ich wartete darauf, daß Don Juan anfing, mir diese Geschichten zu
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