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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Autoren: Carlos Castaneda
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für ihn und die anderen Lehrlinge zum Inbegriff eines abscheulichen Menschen wurde. Doch wenn sie sich gründlicher erforschten, mußten sie zugeben, daß Tulio irgendwie faszinierend war. Er war flink, geheimnisvoll und machte - ob bewußt oder unbewußt - den Eindruck eines Schattens.
    Dann erkundigte sich Don Juan bei Tuliúno, auf welche Weise sie denn die Absicht angerufen hätten - und Tuliúno erklärte, daß Pirscher die Absicht stets laut anrufen. In der Regel rufe man die Absicht in einem isolierten, kleinen und dunklen Raum an. Man stelle eine Kerze auf einen schwarzen Tisch, die Flamme nur ein paar Zentimeter von den Augen entfernt. Man spreche langsam das Wort Absicht aus, deutlich und wohlüberlegt, und so oft man es für nötig halte. Die Stimme könne sich heben oder senken, ganz ohne eigene Überlegung.
    Und Tuliúno betonte, daß man sich beim Anrufen der Absicht auf das konzentrieren muß, was man beabsichtigt. In diesem Fall hätten die Männer sich auf ihre Gleichheit und auf Tulios Erscheinung konzentriert. Nachdem die Absicht sie vereinigt hatte, hätten sie immer noch Jahre gebraucht, bis sie die Gewißheit hatten, daß ihre Gleichheit und Tulios Erscheinung für den Betrachter Wirklichkeit waren.
    Ich fragte Don Juan, was er von einer derartigen Anrufung der Absicht hielte. Und er sagte, daß sein Wohltäter und auch der Nagual Elias eine starke Vorliebe für Rituale gehabt hätten.
    Darum bevorzugten sie Paraphernalien wie Kerzen, verdunkelte Zimmer und schwarze Tische.
    Ich warf ein, daß auch ich mich zu Ritualen hingezogen fühle. Rituale erschienen mir wichtig, um die Aufmerksamkeit zu fesseln. Don Juan ging ernsthaft auf meine Bemerkung ein. Er habe gesehen, sagte er, daß mein Körper - als Energiefeld - ein gewisses Merkmal zeige, das einst, in alten Zeiten, alle Zauberer hatten und auch bei anderen suchten: nämlich eine hell strahlende Stelle, unten rechts an dem leuchtenden Kokon. Dieses Strahlen sei ein Zeichen für Einfallsreichtum und einen Hang zu morbiden Gedanken gewesen. Die Schwarzmagier jener Zeit nutzten gern dieses heiß begehrte Merkmal, und sie assoziierten es mit der dunklen Seite des Menschen.
    »Dann gibt es also eine böse Seite des Menschen?« fragte ich jubilierend. »Du hast es ja immer abgestritten. Du hast immer gesagt, daß es das Böse nicht gibt; daß es nur die Kraft gibt.«
    Ich wunderte mich selbst über meine Gefühlsaufwallung. Unversehens war meine katholische Erziehung durchgebrochen, und der Fürst der Finsternis stand überlebensgroß vor mir.
    Don Juan lachte Tränen.
    »Gewiß haben wir eine dunkle Seite«, sagte er. »Wir töten mutwillig - nicht wahr? Wir verbrennen Menschen im Namen Gottes. Wir zerstören uns selbst. Wir löschen das Leben auf diesem Planeten aus. Wir verwüsten die Erde. Dann schlüpfen wir in einen Talar - und Gott der Herr spricht unmittelbar zu uns. Und was sagt der Herr? Er sagt, wir sollen brave Jungen sein, sonst wird er uns bestrafen. Seit Jahrhunderten droht uns der Herr, und wir kümmern uns nicht darum. Nicht etwa, weil wir böse sind, sondern weil wir blöde sind. Der Mensch hat eine dunkle Seite, jawohl. Man nennt sie Dummheit.«
    Ich wußte nichts mehr zu sagen. Aber insgeheim applaudierte ich und stellte mir mit Vergnügen vor, welch ein Meister der Debatte Don Juan doch war. Wieder einmal hatte er mich mit meinen eigenen Worten geschlagen.
    Nach kurzer Pause fuhr Don Juan fort mit seiner Erklärung. Ähnlich wie das Ritual den Durchschnittsmenschen zwingt, Kathedralen als Monumente der Selbstüberschätzung zu bauen, zwinge das Ritual auch die Zauberer, Pyramiden der Morbidität und Obsession zu errichten, sagte er. Darum sei jeder Nagual verpflichtet, das Bewußtsein so zu lenken, daß es dem Abstrakten entgegenfliege - frei von Schulden und Hypotheken.
    »Was verstehst du unter Schulden und Hypotheken, Don Juan?« fragte ich.
    »Rituale sind besser als alles andere geeignet, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln«, sagte er. »Aber sie fordern auch einen hohen Preis. Und dieser Preis ist ein Hang zur Morbidität. Diese Morbidität kann unser Bewußtsein mit drückenden Schulden und Hypotheken belasten.«
    Denn das Bewußtsein des Menschen, sagte Don Juan, sei wie ein großes Haus, in dem es spukt. Unser Alltagsbewußtsein wäre vergleichbar mit dem Zustand, ein ganzes Leben lang in einem der vielen Zimmer dieses großen Hauses eingesperrt zu sein. Wir betreten das Zimmer durch eine magische Tür: nämlich die
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