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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Autoren: Carlos Castaneda
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Ernst?« fragte ich - möglichst höflich.
    »Ganz im Ernst«, antwortete er und lachte.
    Sein Lachen beruhigte mich etwas. Und nun erklärte er mir das Klassifizierungsschema der Pirscher. Zu den Menschen der ersten Gruppe, sagte er, gehören perfekte Sekretärinnen, Gehilfen und Gefährten. Ihr Charakter ist sehr beweglich, doch ihre Beweglichkeit gereicht ihnen nicht zum Vorteil. Sie sind dienstbeflissen, interessiert, völlig harmlos, in gewissen Maßen erfinderisch, humorvoll, wohlerzogen, sanft und gut. Mit anderen Worten, es sind die liebenswürdigsten Leute, die man sich vorstellen kann. Nur haben sie einen großen Fehler. Sie funktionieren nicht allein. Sie brauchen immer jemanden, der sie führt. Bei richtiger Führung, wie hart und widersprüchlich diese Führung auch sein mag, leisten sie Erstaunliches. Allein aber sind sie verloren.
    Die Menschen der zweiten Klasse sind überhaupt nicht liebenswürdig. Sie sind kleinlich, rachsüchtig, eifersüchtig und egozentrisch. Sie sprechen nur über sich selbst und verlangen, daß die anderen sich ihren Maßstäben unterwerfen. Sie ergreifen stets die Initiative, auch wenn ihnen dies nicht angenehm ist. In jeder Lebenslage sind sie verkrampft, niemals können sie sich entspannen. Sie sind unsicher und nie zufrieden. Und je unsicherer sie sind, desto unangenehmer sind sie. Ihr fataler Fehler ist, daß sie einen Mord begehen würden, nur um Anführer zu werden.
    Zur dritten Gruppe gehören Menschen, die weder liebenswürdig noch unangenehm sind. Sie dienen niemandem und drängen sich niemandem auf. Eher sind sie distanziert und gleichgültig. Sie haben eine übertriebene Meinung von sich selbst - einzig basierend auf Tagträumen und Wunsch Vorstellungen. In einer Hinsicht sind sie außerordentlich: im Warten darauf, daß irgendetwas passiert. Stets warten sie darauf, entdeckt und erobert zu werden. Und sie verstehen es wunderbar, die Illusion zu wecken, als wären sie zu großartigen Taten begabt, die sie natürlich niemals bringen, weil sie einfach nicht das Zeug dazu haben.
    Er selbst, sagte Don Juan, gehöre eindeutig zu der zweiten Klasse. Dann forderte er mich auf, mich in eine der Klassen einzuordnen, und ich wurde verlegen. Don Juan kugelte sich beinah vor Lachen.
    Noch einmal forderte er mich auf, mich irgendwo einzuordnen, und zögernd vermutete ich, daß ich eine Kombination von allen dreien sein könnte.
    »Laß diesen Kombinationen-Blödsinn!« sagte er, immer noch lachend. »Wir sind einfache Lebewesen. Jeder von uns gehört einem der drei Typen an. Meine Meinung ist, daß du zu der zweiten Klasse gehörst. Die Pirscher bezeichnen diese Leute als Windeier.«
    Ich protestierte und wandte ein, sein Klassifizierungsschema sei doch allzu erniedrigend. Aber ich bremste mich, bevor ich eine lange Tirade anstimmen konnte. Ich begnügte mich mit der Feststellung, daß wir - falls dies wahr wäre und es nur drei Charaktertypen gäbe - unser Leben lang in einer dieser drei Kategorien gefangen blieben, ohne Hoffnung auf Veränderung oder Erlösung.
    Genau dies sei der Fall, pflichtete er bei. Nur, daß uns ein einziger Weg der Erlösung offenstünde. Die Zauberer hätten nämlich schon vor langer Zeit herausgefunden, daß nur unser persönliches Selbstbild sich in diese Kategorien einordnen lasse.
    »Unser Problem ist, daß wir uns zu ernst nehmen«, sagte er. »Die Frage, zu welcher Kategorie unser Selbstbild gehört, spielt nur aufgrund unserer Selbstüberschätzung eine Rolle. Würden wir uns nicht so überschätzen, dann wäre es ganz egal, zu welcher Kategorie wir gehören.
    Ich werde immer ein Windei sein«, fuhr er fort - und schüttelte sich vor Lachen. »Und du ebenfalls. Aber ich bin ein Windei, das sich nicht ernst nimmt - du tust es wohl.«
    Ich war empört. Ich wollte streiten mit ihm, brachte aber nicht die Energie dazu auf.
    Der Widerhall seines Lachens über der leeren Plaza war unheimlich.
    Dann wechselte er das Thema und zählte noch einmal all die abstrakten Kerne auf, über die er mit mir gesprochen hatte: die Offenbarungen des Geistes, das Anklopfen des Geistes, die Täuschungen des Geistes, das Herabsteigen des Geistes, die Voraussetzungen der Absicht, die Durchführung der Absicht. Er wiederholte sie mehrmals, als wollte er sie meinem Gedächtnis einprägen. Und dann skizzierte er in knapper Form noch einmal alles, was er mir über diese abstrakten Kerne erzählt hatte. Es schien, er wollte mich dazu bewegen, all diese Informationen in der
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