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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Autoren: Carlos Castaneda
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erzählen, doch er wechselte das Thema und kehrte zurück zu seiner Erklärung des Bewußtseins.
    »Warte mal«, protestierte ich. »Was ist mit den Zauberei-Geschichten? Wirst du sie mir nicht erzählen?«
    »Natürlich werde ich«, sagte er. »Aber es sind keine Geschichten, die man erzählen könnte, als ob es Märchen wären. Du mußt sie durchdenken und sie dann überdenken - sie sozusagen wiedererleben.«
    Es folgte ein längeres Schweigen. Ich wurde sehr vorsichtig und fürchtete, daß ich, wenn ich ihn allzu beharrlich aufforderte, mir die Geschichten zu erzählen, mich auf etwas einlassen könnte, was ich später bedauern mußte. Doch meine Neugier war stärker als meine Vernunft.
    »Na, fangen wir an damit«, krächzte ich.
    Don Juan, der offenbar die Richtung meiner Gedanken erfaßt hatte, lächelte boshaft. Er stand auf und bedeutete mir, ihm zu folgen. Wir hatten auf irgendwelchen trockenen Steinen am Grunde einer Schlucht gesessen. Es war hoher Nachmittag. Der Himmel war finster und bewölkt. Tiefe, beinah schwarze Regenwolken hingen über den Gipfeln im Osten. Im Vergleich dazu ließen die hohen Wolken im Süden den Himmel beinah klar erscheinen. Früher am Tag hatte es geregnet, aber dann schien der Regen sich in ein Versteck verzogen zu haben, und zurückgeblieben war nur eine Drohung.
    Ich hatte frieren müssen bis aufs Mark, denn es war sehr kalt. Aber mir war warm. Während ich einen Stein umklammerte, den Don Juan mir in die Hand gedrückt hatte, erkannte ich, daß dieses Wärmegefühl trotz frostkalten Wetters mir ganz vertraut war, obwohl es mich jedesmal verblüffte. Immer wenn ich zu frieren schien, drückte mir Don Juan einen Ast in die Hand, einen Stein, oder er schob mir einen Büschel Blätter unter das Hemd, direkt über dem Brustbein. Und dies genügte meist, um meine Körpertemperatur steigen zu lassen.
    Ich hatte schon selbst erfolglos versucht, diese Wirkung seiner Handreichungen zu erzielen. Es wären nicht diese Handreichungen, sagte er, sondern sein inneres Schweigen, das mich warm hielt; die Äste oder Steine oder Blätter seien lediglich Hilfsmittel, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln und sie wach zu halten. Mit raschen Schritten kletterten wir die steile Westflanke eines Berges hinauf, bis wir ein Felsband unmittelbar am Gipfel erreichten. Von diesem Felsband sah ich, daß der Nebel anfing, sich nach dem südlichen Ende des Talbodens unter uns zu verziehen. Unterdes drängten flache, faserige Wolken heran, die von den schwarzgrünen hohen Berggipfeln im Westen niedersanken. Nach dem Regen, und unter dem dunklen Wolkenhimmel, schienen das Tal und die Berge nach Osten und Süden in einen Mantel schwarzgrünen Schweigens gehüllt.
    »Dies ist ein idealer Platz für ein Gespräch«, sagte Don Juan und setzte sich auf den felsigen Boden einer flachen, versteckten
    Höhle. Die Höhle war perfekt für uns beide, um nebeneinander zu sitzen. Unsere Köpfe streiften beinah die Decke, und mit dem Rücken schmiegten wir uns bequem an die gewölbte Fläche der Felswand. Es war, als sei die Höhle absichtlich ins Gestein gehauen worden, um zwei Menschen von unserer Größe Platz zu bieten.
    Noch eine weitere Merkwürdigkeit dieser Höhle fiel mir auf: wenn ich mich auf das Felsband stellte, überblickte ich das ganze Tal und die Bergketten im Osten und Süden, doch wenn ich mich setzte, war ich von Felsen umgeben. Dennoch bildete das Felsband eine Ebene mit dem Höhlenboden und war flach.
    Eben wollte ich Don Juan auf diesen sonderbaren Effekt aufmerksam machen, als er mir zuvorkam.
    »Diese Höhle ist von Menschen gemacht«, sagte er. »Das Band ist geneigt, aber das Auge bemerkt die Schräge nicht.«
    »Wer machte diese Höhle, Don Juan?«
    »Die alten Zauberer. Vor Jahrtausenden vielleicht. Eine der Besonderheiten dieser Höhle ist, daß Tiere und Insekten und sogar Menschen sich von ihr fernhalten. Anscheinend haben die alten Zauberer sie mit einer unheilvollen Spannung aufgeladen, die bewirkt, daß alle Lebewesen sich hier unbehaglich fühlen.«
    Aber wie sonderbar, ich fühlte mich dort unglaublich froh und geborgen. Ein Gefühl physischen Behagens prickelte durch meinen ganzen Körper. Ich empfand sogar ein sehr angenehmes, geradezu köstliches Gefühl im Bauch. Es war, als würden meine Nerven gekitzelt.
    »Ich fühle mich nicht unbehaglich«, bemerkte ich.
    »Ich auch nicht«, sagte er. »Was nur bedeuten kann, daß wir beide im Temperament nicht allzu verschieden sind von jenen
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