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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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Vorgehensweise anzuwenden. Auch wenn
sie
offiziell
unsere
Vorgehensweise übernommen haben. Absurd. Und die reine Absurdität unserer offiziellen Version ist für uns, die Historiker, zu einer schweren Belastung geworden.
    Niemand hat sich der Aufgabe angenommen, das Material wie eine ernsthafte Aufzeichnung zu studieren und dann eine schlüssige Historie daraus zu bilden. Kein Grieche hat sich darangemacht, obwohl Mythen und Legenden das Gebiet der Griechen sind und man dies durchaus als Legende darstellen könnte. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es nun einmal keine Legende ist, sondern eine Art Tatsachenbericht. Unsere eigene Historie reicht schließlich gar nicht besonders weit zurück. Und entsteht doch mit Äneas unvermittelt aus dem Mythos heraus, und die Flammen des brennenden Troja erleuchten unsere Frühzeit genauso wie die der Griechen auch.
    Vielleicht war man der Ansicht, dass eine Schilderung unserer Anfänge nicht akzeptabel ist, wenn darin gesagt wird, dass wir eindeutig von weiblichen Wesen abstammen. In Rom behauptet mittlerweile eine Sekte, die Christen, dass das erste weibliche Wesen aus dem Körper eines männlichen hervorgegangen ist. Sehr verdächtig, finde ich. Das hat ein männliches Wesen erfunden – das genaue Gegenteil der Wahrheit.
    Ich fand es schon immer unterhaltsam, dass weibliche Wesen als Göttinnen verehrt werden, während sie im gewöhnlichen Leben zweitrangig sind und als unterlegen gelten. Vielleicht war ich durch meine Neigung zur Skepsis dazu fähig, mich der Aufgabe zu widmen, von unserem wirklichen Ursprung zu berichten, der, wie man sehen wird, durchaus legendenhafte Züge hat. Zum Beispiel, was jene Adler angeht, die Verfolger der ersten weiblichen und die Retter der ersten männlichen Wesen. Nun, wir in Rom können gegen die Neigung, den Adler zum Fetisch zu machen, nichts sagen – auch wenn unsere sehr viel kleiner sind als die riesigen Adler bei den Spalten und den Ungeheuern.
    Wir sind die Adler, der Adler, die Kinder des Adlers. Die Adler trugen uns auf ihren Schwingen, sie tragen uns auf ihrem Atem, sie sind die Schwingen des Windes, der Große Adler sieht uns, er kennt uns, er ist unser Vater, er hasst unsere Feinde, er kämpft für uns gegen die Spalten.
    Anmerkung des Historikers: Dies ist das Tanzlied der Allerersten Männer, und vielleicht hört man es noch heute, wenn es an abgelegenen Orten gesungen wird, während sein Ursprung längst vergessen ist. Die Adler-Menschen setzen den stärksten Klan fort, den der Herrscher. Noch heute wird jeder bestraft, der einen Adler tötet: Früher wurde man dafür auf der Stelle hingerichtet.
     
    Und dies ist ein Kriegsgesang der Allerersten Männer:
    Tötet die Spalten,
    Tötet sie, tötet sie,
    Sie sind unsere Feinde,
    Tötet sie alle.
    Auf den ältesten Keramiken, die wir besitzen, gibt es Abbildungen genitaler Verstümmelung, und zwar keineswegs nur an männlichen Wesen durch weibliche, sondern auch an weiblichen durch männliche. Es handelt sich hier nicht um die raffinierten Krüge und Gefäße einer Epoche, die als künstlerisch wertvoll gilt. Die Keramiken sind unförmig und primitiv. Abbildungen von Folterungen werden unter Verschluss gehalten, und die meisten Leute wissen nichts von ihrer Existenz. Ein Herrscher von eher optimistischem Naturell hatte verfügt, dass Abbildungen von jeglicher Art der Folter zerstört oder unter Verschluss gehalten werden mussten: offensichtlich in dem Glauben, dass menschliche Wesen zu Grausamkeiten gar nicht fähig sind, solange man ihnen derartige Gedanken nicht in den Kopf pflanzt. Ich frage mich, wer das war. Vielleicht war es auch eine Sie. Vor langer Zeit. Das Lager mit den Töpferwaren wurde in einer Höhle gefunden, von der man annimmt, dass sie Wohnstätte frühzeitlicher Menschen war.
    Damit schließe ich nun meine Erklärungen ab und komme zu meinem Versuch einer Geschichtsschreibung; einer Geschichtsschreibung, mit der sowohl Spalten als auch Ungeheuer, männliche und weibliche Wesen einverstanden wären. Und schon stehe ich vor einem Problem. Ich habe geschrieben: »männliche und weibliche«. Bei uns ist es üblich, dass männliche Wesen immer an erster Stelle stehen. Sie sind in unserer Gesellschaft die Ersten, obwohl gewisse große Damen aus den Adelshäusern durchaus Einfluss haben. Und ich habe den Verdacht, dass diese Vorrangstellung eine späte Erfindung ist.
     
    Die Historie
     
    Aus uralten mündlichen Berichten zusammengestellt und Ewigkeiten nach dem
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