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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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hatte, und trug es über den Berg zu den anderen. Wir haben keine Vorstellung davon, wie sie überleben konnten, die Kleinen.
    Dann wurden sehr viele Ungeheuer geboren, alle auf einmal. Einige der Alten Weiblichen wollten, dass wir noch eins als Spielzeug behielten, andere nicht. Doch die Geschichte besagt, dass ziemlich viele Neugeborene gleichzeitig auf dem Todesfelsen ausgesetzt wurden, worauf nicht ein oder zwei Adler erschienen, sondern so viele, wie es kleine Ungeheuer gab, und wir sahen zu, wie die Kleinen über die Berge davongetragen wurden. Wie die Kleinen überlebten? Neugeborene brauchen Milch. Einem Bericht zufolge bekam eine unserer jungen Spalten Mitleid mit den hungrigen Kleinen, weshalb sie allein über die Berge ging, Kinder vorfand, die dort herumkrabbelten und weinten, und so viele fütterte, wie sie konnte. In unseren Brüsten ist immer Milch. Unsere Brüste sind nützlich. Im Gegensatz zu euren.
    Sie ist bei den Ungeheuern geblieben, und niemand weiß bislang, was wirklich geschehen ist. Ich denke, das wollen wir glauben, weil wir uns für den Rest der Geschichte schämen, doch es bleibt die Frage, wie die Säuglinge überlebten, ohne dass sie gefüttert wurden.
    Einem Bericht nach saßen zwei von uns am Meer, sahen den Wellen zu und glitten hin und wieder hinein, um ein wenig zu schwimmen, als sie zwei jener Meerestiere sahen, die wir Brusttiere nennen, weil sie so aussehen: große, wabbelige Gallerte mit hervorstehenden Schläuchen wie bei den Ungeheuern, und als das eine seinen Schlauch in das andere senkte, verteilten sich kleine Eier im Wasser.
    Da kamen wir zum ersten Mal auf die Idee, dass die Schläuche der Ungeheuer dazu da waren, Eier zu machen, doch wenn das zutraf – warum und wozu?
    Ich glaube, dass dieser Bericht aus der Luft gegriffen ist, aber irgendetwas dergleichen muss wohl geschehen sein.
    Die Alten Weiblichen fingen an, darüber zu reden, weil wir es ihnen erzählten – mit »wir« sind hier die Jüngeren gemeint, die durch die Sache mit den Schläuchen und Eiern irgendwie neugierig geworden waren. Einige dieser Jüngeren gingen über die Berge, und als die Ungeheuer sie sahen, packten sie sie und schoben ihre Schläuche in sie hinein, und so entstanden
Männlich
und
Weiblich
, und wir lernten, Ich zu sagen und nicht nur Wir – und seither gibt es mehrere Geschichten statt nur einer. Ja, ich weiß, was ich erzähle, ist nicht unbedingt einleuchtend, aber wie ich schon sagte, es gibt viele Geschichten, und wer weiß, welche wahr ist? Und später verloren wir, die Spalten, dann unsere Fähigkeit, ohne sie zu gebären, ohne die Ungeheuer – ohne euch.
     
    Die Schilderung von dieser Maire ist viel später entstanden als das früheste Dokument, das wir besitzen. Viel später – eine Ewigkeit. Ewigkeit ist ein Wort, dem man misstrauen muss: Es heißt, dass man eigentlich gar nichts weiß. Der Bericht ist geglättet, weil er oft wiederholt worden ist, und selbst die Reue angesichts der Misshandlungen klingt irgendwie schal. Nein, der Bericht ist nicht unwahr, er ist sogar durchaus nützlich, aber vieles bleibt ausgespart. Und das Ausgesparte steht in jenem allerersten Dokument oder Fragment, das vermutlich einen Versuch darstellt, »die Geschichte« wiederzugeben. Es klingt primitiv und unbeholfen, und wer da erzählt, steht unter Schock. Vor der Geburt des ersten »Ungeheuers« war dieser Gemeinschaft der ersten Menschen nie etwas zugestoßen – für Ewigkeiten nicht. Das erste Ungeheuer hielt man noch für einen unglücklichen Geburtsfehler. Doch dann kam noch eins und noch eins … und es war abzusehen, dass es so weitergehen würde. Daraufhin gerieten die Alten Weiblichen Wesen in Panik, tobten, schrien und bestraften die Jüngeren, die diese Ungeheuer hervorbrachten. Und wie sie die Ungeheuer behandelten – nun, sie liest sich nicht angenehm, Maires Schilderung, und ich kann mich nicht dazu durchringen, jenes andere Fragment hier wiederzugeben. Es ist zu unerfreulich. Schließlich bin ich ein Ungeheuer und identifiziere mich zwangsläufig mit diesen Kindern, die vor langer Zeit gefoltert wurden, mit den ersten männlichen Säuglingen. Der Einfallsreichtum, den die Alten Weiblichen Wesen beim Erfinden von Misshandlungen an den Tag gelegt haben, ist ekelerregend. Selbst noch in der Phase, als man Neugeborene zum Sterben aussetzte und dann ein paar behielt und verstümmelte – nun, sie dauerte viel länger, als der obige Bericht nahelegt. Sehr viel länger.
    Es
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