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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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lebhafte Wellen und Gischt und jenseits davon einen langen, schimmernden Strand mit sauberem weißen Sand: Zuvor hatte es an der Küste der Frauen keinen Strand gegeben.
    »Schau«, sagte Horsa und wies hinauf auf die Klippen, die den Strand überragten. »Höhlen. Genauso gut wie die, die ihr benutzt habt.«
    Maronna, die schließlich alle Eigenschaften besaß, die nötig waren, um die Frauen zu regieren, stand schweigend da und betrachtete den Strand: Sie begriff durchaus, welche Vorteile er bot.
    Als sich die geretteten kleinen Jungen gewaschen hatten, kamen sie auf Maronna und Horsa zugerannt.
    Doch es waren nur wenige, wie wir wissen.
    Maronna entwand sich seinen Armen und sagte: »Wo sind die anderen Jungen? Wann kommen sie?«
    Da war er, der gefürchtete Moment. Horsa stand mit gesenktem Kopf und herabhängenden Armen vor seiner Anklägerin, die Handflächen ihr zugewandt – eine Haltung, die ihr verriet, was sie gleich hören würde. Horsa zitterte, und seine Krücke, der Stock, zitterte auch.
    Maronna riss sich schon mit beiden Händen am nassen Haar. Man erinnere sich, sie trug das Haar normalerweise »auf dem Kopf aufgesteckt«. Nun floss es herab, nur dort nicht, wo weißes Pulver es verklebte. Sie riss und zerrte daran, um sich einen Schmerz zuzufügen, der heftig genug war, um die Qual zu betäuben, die sie empfand.
    »Wo sind sie, Horsa, wo?«
    Als er den Kopf schüttelte, schrie sie: »Dann sind sie tot? Du hast unsere kleinen Jungen umgebracht. Oh, ich hätte es wissen müssen. Was habe ich nur erwartet? Du bist so achtlos, es ist dir gleichgültig …« So standen sie sich am Ende jenes wunderbaren Strands gegenüber, der bald alle Frauen und Kinder und auch die Männer beherbergen sollte, wenn sie zu Besuch kamen. Maronna schäumte vor Zorn, während er zusammengesunken und schuldbewusst dastand und im Unrecht war. Maronna schrie und hörte erst auf, als ihre Stimme heiser wurde, und dann stand sie schweigend da und sah ihn mit bohrenden Blicken an. Er zitterte, sackte unter dem Kummer zusammen, den er nun tatsächlich empfand, weil ihre Verzweiflung ihm sagte, welche Ungeheuerlichkeit er begangen hatte. Und als sie das sah, verstand sie ihn. Sie sah das bemitleidenswerte Bein, nahm es zum ersten Mal richtig wahr, das verdorrte, verdrehte Bein.
    Weichherzigkeit ist nichts, was man ohne Weiteres mit jungen Männern in Verbindung bringt. Das Leben prügelt sie uns ein, es muss uns weicher und geschmeidiger prügeln, als unser jugendlicher Stolz es zulässt. Horsa sah Maronna, wie er sie noch nie gesehen hatte. Vielleicht hatte er es ohnehin eher gespürt als erlebt, dass sie jemand war, der sich immer kritisch äußerte und ihm Vorwürfe machte. Doch nun sah er ein zitterndes Mädchen, das noch immer weiße Pulverstreifen trug, obwohl ihr Gesicht tränenüberströmt war. Sie war so verzweifelt, so hilflos: Horsa wurde in diesem Moment erwachsen und trat auf sie zu, um sie in die Arme zu schließen, und sie öffnete die ihren für ihn. »Armes Kind«, flüsterte sie. »Armer Junge«, wisperte sie, und er brach zusammen und weinte – der große Horsa wurde noch einmal zum kleinen Kind. Das war angenehm, ja, ich denke, das kann ich mit Sicherheit sagen. Noch einmal ein kleines Kind in den Armen der Mutter zu sein, das gestreichelt wird und dem man verzeiht … denn nach allem, was wir wissen oder was sie wussten, war Maronna Horsas Mutter.
    Und je bedeutender die Kapitulation vor weiblichen Wesen ist, desto bedeutender wird die Auswirkung sein: Auch das muss ich schreiben. Wer hat es nicht erlebt, erkannt, verstanden?
    Während Maronna Horsa liebevoll in den Armen hielt und ihm verzieh, tauchte irgendwo in seinem ruhelosen Geist der Gedanke auf: »Ich erzähle ihr von dem wunderbaren Ort, den ich gefunden habe, ja, genau. Dann will sie ihn auch sehen, ganz bestimmt. Sie wird mich verstehen, ja, sie wird mitkommen, wir fahren zusammen, ich baue ein Schiff, das besser ist als alle, die wir je gebaut haben, und dann gehen wir an dieser Küste zusammen an Land und …«
     
    Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, erneut etwas zu diesem Thema zu sagen, denn schließlich bin ich inzwischen alt, und das Leben eines Gelehrten ist nicht leicht für mich. Doch der Ausbruch des Vesuv hat mich veranlasst, noch einmal über die Kluft und ihre vergleichsweise bescheidene Explosion nachzudenken. Der Vesuv hat noch in großer Entfernung Menschen getötet, sogar in Pompeji, und offenbar war giftiger Staub der
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