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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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wären wir dumm, aber wenn wir so dumm sind, wie kommt es dann, dass wir schon so lange leben, sicher und wohlbehalten, viel länger als ihr, die Ungeheuer. Unsere Geschichte reicht weit zurück, wie ihr uns sagt, und eure ist viel kürzer. Warum hätten wir also umherziehen und nach Neuem Ausschau halten oder über die Adler nachdenken sollen? Wozu? Alles, was wir wollen, haben wir in diesem Teil der Insel – wie ihr es nennt, ihr sagt uns, dass es eine große Insel ist. Nun, wie ihr wollt, aber was heißt das schon für uns? Wir leben auf dem Teil der Insel, wo wir jeden Abend die Sonne im Meer versinken und den Mond bei Tagesanbruch verblassen sehen.
    Lange nachdem das erste Ungeheuer geboren worden war, sahen wir unten an dem Küstenstreifen, der den Adlerbergen am nächsten liegt, ein Ungeheuer, einen von euch. Um die Taille trug es ein Tuch aus Fischhaut, wie wir es zur Zeit der roten Blume tragen. Wir konnten unter dem Tuch dieses klumpige schwellende Ding erkennen, das wir so hässlich fanden. Wir hatten dieses Ungeheuer geboren, und nun war es erwachsen. Wie es dazu gekommen war? Die Alten Weiblichen sagten, dass wir uns auf die Lauer legen und das Ungeheuer töten sollten, wenn es das nächste Mal an der Küste erschien. Dann kam es unter den Alten Weiblichen zum Streit, denn einige sagten, wenn wir das nächste Mal ein Ungeheuer zum Sterben aussetzten, sollten wir hinauf in die Berge steigen, wo die Adler wohnten, und nachsehen, wohin sie es schleppten. Genau das taten einige von uns. Dass sie große Angst hatten, kommt in der Geschichte vor, die wir die Jüngeren lernen lassen. Es war bei uns nicht üblich, umherzustreifen, und schon gar nicht bis in die Adlerberge. So weit war bisher keine gegangen. Ja, ich weiß, es ist nur ein bequemer Spaziergang.
    Sie sahen, dass der Adler das Ungeheuer mit seinen Klauen packte und hinauf in die Berge zu den Nestern trug, doch statt das Kind in ein Nest fallen zu lassen, flog der Adler weiter und brachte es hinunter in ein Tal mit Hütten. Wir hatten nie eine Hütte oder irgendeinen Unterstand gesehen, denn wir hatten immer unsere Höhlen gehabt. Weil die Hütten wie seltsame Tiere aussahen, wären wir beinahe vor Angst nach Hause gelaufen. Der Adler brachte das Kind ins Tal, und ein paar Ungeheuer nahmen es und gaben dem Vogel einen großen Klumpen zu fressen. Inzwischen wissen wir, dass es ein Fisch war. Das Kleine wurde in eine Hütte gebracht. Was die Beobachterinnen sahen, machte ihnen Angst, und sie eilten nach Hause und erzählten den Alten Weiblichen, was sie gesehen hatten. Und was sie erzählten, war schrecklich und beängstigend. Jenseits der Adlerberge lebten Ungeheuer, Erwachsene, die keine Spalten waren wie wir. Sie konnten leben, obwohl sie missgebildet und hässlich waren. So dachten wir damals. Alle hatten Angst und waren erschrocken und wussten nicht, was sie tun oder denken sollten.
    Als wieder ein Ungeheuer geboren wurde, befahlen uns die Alten Weiblichen, es von einer Klippe ins Meer zu werfen. Einige von uns stiegen mit dem Kleinen die Klippen hinauf. Sie wollten es nicht töten, weil sie inzwischen wussten, dass es erwachsen werden und leben konnte, aber in den Wellen würde es sterben. Wir alle sind gern im Meer und schwimmen und lassen uns treiben, doch unsere Kinder müssen das erst lernen. Das Kleine schrie, und alle weinten und heulten, weil sie dort für die Alten Weiblichen nicht zu hören waren und nicht wussten, was sie machen sollten. Sie hassten die Ungeheuer, und nun hatten sie auch noch Angst, weil sie wussten, dass die Ungeheuer jenseits der Berge lebten … Nun, du hast mich gebeten, dir zu erzählen, was geschah, warum also wirst du dann wütend, wenn ich es tue? Wenn eine von uns Spalten in eure Gemeinschaft hineingeboren worden wäre – woher willst du wissen, dass wir – anders, wie wir sind – für euch keine Ungeheuer gewesen wären? Ja, ich weiß, ihr könnt nicht gebären, nur wir Spalten können gebären, und ihr verachtet uns, ja, das tut ihr, aber ohne uns würde es keine Ungeheuer geben, es würde überhaupt niemanden geben. Habt ihr daran schon einmal gedacht? Wir Spalten machen alle Menschen, Spalten und Ungeheuer. Was würde geschehen, wenn es keine Spalten gäbe – habt ihr darüber schon einmal nachgedacht?
    Als sie mit dem brüllenden neugeborenen Ungeheuer auf der Klippe standen, erschien dicht über ihnen einer der großen Adler und schrie laut und unaufhörlich, bis sie wirklich Angst bekamen. Die
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