Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
derselben Art, eine Familie,
Die die Felsspalte bewachen, Die Fische fangen, Die Netze machen, Die Fischhaut gerben, Die Seetang sammeln
. Und so hießen wir auch. Ich hieß
Die die Felsspalte bewacht
. Was machte es schon, wenn mehrere denselben Namen hatten? Wenn man jemanden sieht, weiß man schließlich Bescheid, oder?
    Mein Name, Maire, gehört zu den neuen Wörtern.
    So dachten wir nicht, nein, wir dachten nicht, dass jeder Mensch einen Namen für sich allein haben musste. Manchmal denke ich, wir lebten in einer Art Traum, in einem Schlaf, weil alles langsam und mühelos vor sich ging und nichts geschah, außer dass der Mond hell und groß war und rote Blumen durch die Felsspalte gespült wurden.
    Und natürlich wurden Kinder geboren. Sie wurden einfach geboren, einfach so, und niemand tat etwas, um sie zu machen. Ich glaube, wir dachten, dass der Mond sie machte oder ein großer Fisch, aber man kann sich nur schwer erinnern, was wir dachten, denn es war wie ein Traum. Was wir dachten hat nie zu unserer Geschichte gehört, nur das, was geschah.
    Du wirst wütend, wenn ich Ungeheuer sage, aber schau dich doch an. Schau dich an – und dann schau mich an. Na los, schau. Ich trage den roten Blumengürtel gerade nicht, also kannst du sehen, wie ich bin. Und jetzt schau dir die Spalte an, wir sind gleich, Die Spalte und wir alle, die Spalten. Kein Wunder, dass ihr euch an dieser Stelle bedeckt, aber wir müssen das nicht. Wir sind hübsch anzusehen, wie die Muscheln, die wir nach einem Sturm auf den Felsen sammeln können.
Schön
 – dieses Wort habt ihr uns gelehrt, und ich benutze es gern. Ich bin schön, genau wie die Spalte, wie die Kluft mit den hübschen roten Blumen. Aber ihr habt überall Beulen und Klumpen und so ein Ding wie eine Röhre, das manchmal wie eine Seegurke aussieht. Kein Wunder, dass wir die ersten Kinder, die von eurer Art geboren wurden, den Adlern vorgeworfen haben.
    Missgebildete Säuglinge haben wir immer dorthin geworfen, auf den Felsen da, den Felsabhang gleich hinter der Kluft. Eine Seite der Felsspalte erhebt sich aus dem Todesfelsen, ja, so nennen wir ihn. Wir haben versehrte Säuglinge nicht behalten, und Zwillinge auch nicht. Wir haben sehr darauf geachtet, dass unsere Zahl begrenzt bleibt, denn es war besser so. Warum? Weil es immer so war und weil wir nie daran dachten, etwas zu ändern. Es gab bei uns nicht viele Geburten, vielleicht zwei oder drei in einer Höhle innerhalb langer Zeit, und manchmal gab es in einer Höhle gar keine Kinder. Wir freuen uns natürlich, wenn eins geboren wird, aber wenn wir alle Neugeborenen behalten würden, wäre nicht genug Platz für alle da. Ja, ich weiß, ihr sagt, wir sollen uns einen Küstenabschnitt suchen, wo mehr Platz ist, aber wir waren immer hier, und wir können uns doch nicht von der Kluft entfernen! Hier gehören wir hin, und die Stelle hat immer uns gehört.
    Wenn wir missgebildete Säuglinge ausgesetzt haben, sind die Adler gekommen, um sie zu holen. Wir haben die Kleinen nicht getötet, das haben die Adler gemacht. Auf dem Gipfel da drüben wacht ein Adler – kannst du ihn sehen? Der kleine Fleck da, das ist ein riesengroßer Adler, so groß wie ein Mensch. Wir haben alle neugeborenen Ungeheuer ausgesetzt und zugesehen, wie die Adler sie in ihre Nester davontrugen. So ging es lange, glauben wir, sehr lange, und die Alten Weiblichen (wie ihr sie nennt) machten sich Sorgen, weil immer weniger in den Höhlen wohnten, denn es wurden viele Ungeheuer geboren, mehr als Kinder unserer Art, der weiblichen.
    Männlich, weiblich. Neue Worte, neue Menschen.
    Und so ging es weiter, statt voller Freude auf eine Geburt zu warten, hatten wir Angst, und wenn eine von uns sah, dass das Neugeborene ein Ungeheuer war, schämte sie sich, und die anderen hassten sie. Natürlich nicht für immer, aber er war schrecklich, dieser Moment, wenn bei der Geburt ein Ungeheuer erschien. Es gab immer weniger, die Fische fingen oder Meerestiere sammelten. Die Alten Weiblichen beklagten sich, dass sie nicht genug zu essen bekamen. Ja, wir haben sie immer verpflegt und ihnen die besten Bissen gegeben. Ich weiß nicht, warum, wir taten es eben. Plötzlich wohnten in der Höhle derer,
Die Fische fangen
, nur noch halb so viele, und manche, die eigentlich keine Fische fingen, mussten es schließlich übernehmen.
    Ich finde auch, es ist seltsam, dass wir nie darauf kamen, uns zu fragen, was auf der anderen Seite der Adlerberge geschah. Ihr redet immer so, als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher