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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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kam zu einer Art Krieg zwischen den Adlern und den ersten weiblichen Wesen, den diese keinesfalls gewinnen konnten. Kämpfe, selbst Aggressionen waren ihnen fremd, und außerdem waren sie keinerlei körperliche Betätigung gewohnt. Sie lagen auf ihren Felsen herum, und sie schwammen. Das war ihr Leben, und so war es immer gewesen – Ewigkeiten. Und nun waren da plötzlich große, wütende Vögel, die jede ihrer Bewegungen beobachteten und ihnen die Ungeheuer entreißen wollten, sobald sie geboren waren. Einige weibliche Wesen wurden getötet, jüngere, die die Ungeheuer versorgten – sie wurden ins Meer gefegt und konnten nicht wieder hinausklettern, weil die Adler über ihnen schwebten und sie unter Wasser drückten, bis sie ertranken. Jener Krieg kann nicht lange gedauert haben, sorgte aber dafür, dass die weiblichen Wesen zum ersten Mal Feinde hatten. Sie hassten die Adler und versuchten eine Weile, sie zu verletzen, indem sie mit Steinen warfen oder mit Stöcken nach ihnen schlugen. In dieser (nach Maires Worten) verschlafenen Gemeinschaft der allerersten Menschen, der allerersten weiblichen Wesen kamen nicht nur Angst, sondern auch elementare Formen von Angriff und Verteidigung auf. Und das genügte schon, um die Alten Weiblichen Wesen, die dort herrschten, aus dem Gleichgewicht zu bringen. Weil man diese bald ebenso sehr fürchten musste wie die Adler, verbündeten sich die jungen Frauen gegen die älteren und bedrohten sie. Sie waren es schließlich, die die Ungeheuer gebaren und füttern mussten, wenn beschlossen worden war, dass das eine oder andere aufgezogen werden sollte. Und wenn man sich ihrer entledigen wollte, mussten sie diese üble Aufgabe übernehmen. Die Alten Weiblichen Wesen lagen kreischend oder jammernd auf den Felsen und schimpften über alles und jedes.
    Das Aufkommen der Ungeheuer schreckte die ersten weiblichen Wesen nicht nur aus ihrem langen Traum – es hätte ihn beinahe beendet. Sie mussten aufhören, einander zu bekämpfen, weil nicht jede junge Mutter die Ungeheuer so sehr hasste, dass sie sie auch vernichten wollte. Gefühle kochten hoch und wogten und wallten auf, und das hätte beinahe dazu geführt, dass sie sich in einem Bürgerkrieg aufrieben.
    Während ich dies schreibe, kann ich manche Empfindungen aus dieser längst vergangenen Vorzeit durchaus nachvollziehen. Ich stelle fest, dass Maire in ihrer Schilderung von »wir« und »uns« spricht und sich dabei mit den ersten Spalten identifiziert – so wie ich nicht umhinkann, mich mit den allerersten männlichen Wesen zu identifizieren. Es ist ekelerregend, das Fragment zu lesen, das von den kleinen Ungeheuern erzählt. Zu lesen, wie die Alten den Jüngeren befahlen, den Kleinen die »Schläuche und Klumpen« abzuschneiden, woran sie natürlich starben, und wie sie daraufhin jubelten – das tut heute noch weh. Ich werde dem Leser das ersparen, ich werde das Fragment nicht wiedergeben. Immerhin haben sie, die weiblichen Wesen, selbst beschlossen, es nicht in ihre offizielle Geschichte aufzunehmen, in die, die ihre
Gedächtnisse
auswendig lernten. Wie kommt es dann, dass wir das Fragment besitzen? Man muss davon ausgehen, dass es eine Minderheit gab, die nicht damit einverstanden war, dass die Wahrheit zurückgehalten wurde – die abstoßende, ekelerregende Wahrheit. Jemand oder eine Gruppe muss das Fragment aufbewahrt haben, und jemand oder mehrere haben einem
Gedächtnis
die Worte beigebracht. Dann verging eine lange Zeit, in der dieser ekelerregende kleine Bericht weitererzählt wurde, »von Mund zu Mund«, wie wir über unsere mündlich überlieferte Geschichte sagen, Generation um Generation, doch er wurde nie in die eigentliche Geschichte mit einbezogen. Und dann?
    Danach kam der Punkt, an dem all jene mündlich weitergegebenen Berichte niedergeschrieben wurden, in einer uralten Sprache, die erst kürzlich entziffert worden ist. Doch jener aufwieglerische, schädliche Zusatz zur offiziellen Geschichte wurde immer getrennt aufgeschrieben, weshalb ihn frühere Dechiffrierer für unecht hielten, für etwas, das männliche Wesen geschrieben hatten, um das gesamte weibliche Geschlecht in Verruf zu bringen. Doch die Schilderungen der Misshandlungen wirken so drastisch, so blutig, dass sie kaum gefälscht sein können. Es gibt Details, von denen ich nicht annehme, dass sie ohne Weiteres zu fälschen gewesen wären.
    Doch wer ist jener Historiker? Ich bin Schriftgelehrter und Forscher und dafür bekannt, dass ich mich
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