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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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Beginn, der wie die Pein war, die ein gestrandetes Meerestier empfindet, wenn der Stock es sticht.
    Es gibt in diesem Bericht etwas, das im Dunkeln bleiben muss. Ja, ja, vorangegangene Versuche, das Geheimnis zu ergründen, haben Lösungen angeboten, die eher mythisch als wahrscheinlich sind. Wie kam es zu der Gemeinschaft männlicher Wesen? Wir können nicht glauben, dass die Adler den Kindern hochgewürgtes rohes Fleisch fütterten und sie mit ihren Federn wärmten. Nein, es muss eine andere Lösung geben, und hier ist sie.
    Die missgestalteten Kinder, die auf dem Todesfelsen ausgesetzt wurden, waren Futter für die Adler – aber wie lange? Die allerersten Ungeheuer wahrscheinlich auch. Doch dann – wann genau, wissen wir nicht – konnten einige Jungen entkommen, die von den Spalten als »Schoßtiere« und Spielzeug gehalten worden waren. Wir wissen, dass selbst kleine Jungen wahre Großtaten an Ausdauer und Kraft vollbringen können, bereits im Alter von vier, und auf jeden Fall im Alter von fünf, sechs oder sieben Jahren. Zwei, drei, vier kleine Jungen flohen aus den Höhlen über dem Meer. Die Adler konnten so große Kinder nicht tragen, jedenfalls nicht über weite Strecken, auch wenn sie selbst sehr groß waren, vielmal so groß wie die Adler, die wir heute kennen. Die Kinder sahen, wie die Adler zu ihren Nestern zurückflogen, am Todesfelsen vorbei, über das Tal und hinauf auf den Berg – und sie folgten ihnen. Oben auf dem Grat, wo die Adler ihre Nester hatten, hielten sie sich nicht lange auf. Wie beängstigend die riesigen Vögel gewesen sein mussten! Auf der anderen Seite ging es hinunter ins Tal mit dem großen Fluss. Die Kinder waren mit Fisch aufgezogen worden, und Fische gab es hier ebenfalls, wenn es auch andere waren. Man hatte sie in den Höhlen warm gehalten. Doch es waren noch immer kleine Kinder – wie groß muss ihnen das Tal vorgekommen sein, in dem sie sich wiederfanden! Sind sie für ihren Wagemut und ihre Klugheit nicht zu bewundern? Der Fluss war breit, tief und reißend. Trotzdem mussten sie darin Fische fangen. Wo sie wohl Schutz fanden? Wie hätten sie mit einem Mal Hütten und Unterstände bauen können? So etwas hatten sie nie gesehen. Sie kannten lediglich die Nester der Adler, und so schleppten sie kleine und schließlich auch größere Stöcke heran, stapelten sie zu Haufen auf und krochen hinein, wenn es dunkel wurde. Als sie größer und stärker geworden waren, fingen sie an, abgebrochene Äste aneinanderzulehnen, um Unterstände zu bauen. Das Klima war angenehm; Kälte mussten sie nicht fürchten. Doch man darf die wilden Tiere nicht vergessen, die in dem Wald lebten, der in einiger Entfernung zu beiden Seiten des großen Flusses stand. Es grenzt an ein Wunder, dass sie den Tieren nicht zum Opfer fielen. Ob ein Gott oder eine Göttin den Kleinen half? In ihren Aufzeichnungen wird nie ein göttliches Eingreifen erwähnt. Ja, sie waren die Kinder des Adlers, doch weiter ging das Göttliche für sie nicht.
    Wir müssen bedenken, dass die ersten kleinen männlichen Wesen stark verstümmelt waren, und zwar so, dass ich es nicht näher erörtern will. Man hatte ihre »Zapfen« schwer misshandelt, an ihnen gezogen und mit ihnen gespielt; die Beutel hatte man bisweilen abgeschnitten, um sich ein Spiel daraus zu machen, ihnen die Steine zu entnehmen, und vor allem hatten sie nie Zärtlichkeit oder mütterliche Fürsorge erlebt. Ihre Mütter hatten sie auf Befehl der Alten Weiblichen genährt, aber widerwillig und nie in ausreichendem Maß. Wir würden diese schmerzliche Geschichte vielleicht gern dadurch abmildern, dass wir uns eine Spalte vorstellen, die Zuneigung für ihren missratenen Säugling empfand, doch sie hätte ihre Gefühle verbergen müssen, und jede Liebkosung, jede fürsorgliche Geste wäre zwangsläufig flüchtig gewesen. Aber die Jungen waren zäh und robust, geschickt, wenn es darum ging, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Magere kleine Jungen, die dennoch stark und furchtlos waren, die erstaunlicherweise überlebten und zumindest ihren Peinigerinnen, den Spalten, entkommen waren.
    Dann geschah etwas Bemerkenswertes: Die Adler brachten ihnen männliche Neugeborene, die auf dem Todesfelsen ausgesetzt worden waren. Hungrige, schreiende Neugeborene, die aber nicht verstümmelt waren – wie sollten die kleinen Jungen sie füttern?
    In den Wäldern lebten nicht nur wilde, sondern auch freundlich gesinnte Tiere. Die kleinen Jungen sahen Hirschkühe mit ihren
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