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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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verfüttern, möglicherweise wegen der abergläubischen Befürchtung, dass sich die Ungeheuer im Meer vermehren und dann sogar ans Ufer zurückkriechen würden. Können wir das Wort »Aberglauben« in Bezug auf Wesen benutzen, die keinerlei Realitätssinn besaßen, der dem unseren vergleichbar wäre?
    Ich glaube, mit der Geburt der Ungeheuer stieß ihnen zum ersten Mal etwas Schlimmes oder auch nur Beunruhigendes zu.
    Ja, an den Wänden ihrer Höhlen gab es hohe Wasserstandsmarkierungen, also mussten irgendwann große Wellen nach oben geschlagen sein, mehrmals sogar, doch schließlich waren sie Geschöpfe des Meeres. Was sie über Riesenwellen dachten, lässt sich nicht feststellen – ihre Lieder sind nicht Ausdruck von Historie oder Geschichten, sondern eher so etwas wie Wehklagen, und sie klingen wie der Wind, wenn er seufzt und murmelt.
    Das erste Ungeheuer schreckte sie noch nicht aus ihrem Traum auf. Verdrehte Arme oder Beine, eine missgebildete Hand, selbst verzerrte Gesichtszüge oder ein verformter Kopf – dergleichen war traurig, aber nicht bedrohlich, im Gegensatz zum Anblick eines zweiten oder dritten oder weiteren Kinds, bei dem vorn ein Klumpen Fleisch vorstand, wo die Spalten selbst glatt waren und einen sauberen, von weichem Haar umrahmten Schlitz besaßen. Entsetzlich … und noch eines … und noch eines … sie konnten es gar nicht erwarten, die missgestalteten Kinder zum Todesfelsen zu bringen. Diese zapfenartig vorstehenden Dinger dort vorn, die ständig die Form wechselten, oh, abscheulich, hässlich, sie hatten etwas an sich, das …
    Nun, die Adler trugen sie fort und fraßen sie auf, und man musste sie nicht mehr sehen.
    Doch alles hatte sich verändert. Es war so, als hätte man mit einem Stock in eins jener trägen, gestrandeten Meerestiere gestochen, die sich winden, wenn sie den Stock spüren.
    Die Gemeinschaft verträumter Wesen erlitt einen Schock nach dem anderen, und der Grund für ihre Grausamkeit war ihre hilflose Panik.
    Und als nicht mehr zu leugnen war, dass weiterhin Ungeheuer zur Welt kommen würden, kam es zu einer neuen Bedrohung, denn die Gemeinschaft schrumpfte immer mehr.
    Und man befürchtete, dass jedes weibliche Wesen, das ein Ungeheuer geboren hatte, anschließend wieder eins bekommen würde. Was hat man wohl von ihnen gehalten? Es gibt nirgendwo Aufzeichnungen, dass es zuvor zwischen jenen Wesen zu Feindseligkeiten gekommen war. Wurden sie gefürchtet? Fürchteten sie sich vor sich selbst? Unternahm ein weibliches Wesen, das mehr als ein Ungeheuer geboren hatte, eine Abtreibung, wenn sie feststellte, dass sie wieder schwanger war? Auf diese Fragen haben wir keine Antwort.
    Und wie lange dauerte diese Frühzeit an?
    Die
Gedächtnisse
sind uns da keine Hilfe.
    Doch auch wenn man diesen langen Prozess nicht messen kann, ist es doch möglich, ein Gefühl für ihn zu bekommen. Das tiefe Grab oder die Grube, in der die Mädchen geopfert wurden, war voller Knochen, und das Loch war tief. Ganz unten, wo an der Außenseite Fels abgebröckelt war, waren Risse und Öffnungen entstanden, durch die man einen Blick auf tiefere Schichten aus Knochen erhaschen konnte. Die waren nicht frisch und heil wie in den oberen Schichten, sondern zerbrochen und zersplittert, und ganz unten auf dem Boden des großen Lochs lag eine Schicht aus etwas Weißlichem, aus Knochenstaub. Die Schicht war dick. Es hatte sicher sehr lange gedauert, bis diese Knochen zu Staub zerfallen waren, auch wenn Wind und salzige Feuchtigkeit durch Löcher und Lücken wehten und den Prozess beschleunigten.
    Es war unwahrscheinlich, dass diese Leute, die in einem Traum zu leben schienen, regelmäßig opferten oder sonst etwas regelmäßig taten; ihr Leben war von Impulsen und Rhythmen bestimmt, die wir kaum erahnen können. Doch auch wenn man unmöglich die Skelette zählen oder einschätzen konnte, was die Staubschichten über die vergangene Zeit aussagten, lässt sich mit einiger Sicherheit behaupten, dass man von langen Zeiträumen reden kann – von Ewigkeiten.
    Und von Veränderungslosigkeit, von einer Existenz wie der jener Fische, die mit den Gezeiten hin und her geworfen werden, gemäß den Veränderungen des Mondes. Und schließlich von einer wirklichen Veränderung, der entscheidenden Veränderung, der Geburt der Missgebildeten, der Zapfen, der Ungeheuer. Vom Beginn eines Unwohlseins, das sich regte, einer Unruhe, Unzufriedenheit: vom Beginn eines Bewusstseins ihrer selbst, ihres Lebens. Doch nur vom
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