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Die Kinderhexe

Die Kinderhexe

Titel: Die Kinderhexe
Autoren: Roman Rausch
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Aufsicht der Erwachsenen standen und tun konnten, was sie wollten.
    Ein alter Mann saß abseits am Ufer und flickte ein Netz, ein anderer schaute auf den Hochwasser tragenden Main. Kathis Augen folgten seinem besorgten Blick zum Himmel, wo sich von Ochsenfurt her eine dunkle Wolkenwand durchs Maintal schob.
    In den vergangenen drei Wochen hatte es jeden Tag geregnet, und wie es aussah, würde auch an diesem Tag der Himmel kein Einsehen haben. Die Erde und mit ihr die Felder drohten erneut unter dem vielen Wasser zu versinken. Kniehoch überschwemmte es die Auen entlang des Mains. Die Zeichen für eine gute Ernte standen abermals schlecht.
    Ein lautes
Kraah!
ließ Kathi aufmerken. Eine Krähe setzte zur Landung auf einem der Fischerboote an. Es war ein angsteinflößendes Tier. Das Gefieder schwarz wie Pech, die Augen leblos und kalt.
    Im Gegensatz zu den Menschen hatten die Krähen keine Probleme bei der Nahrungssuche. Ringsum tobte der Große Krieg, und wenn die ersten Schwerter klirrten und Musketen krachten, fanden sie sich in Scharen auf den Bäumen ein. Dort oben verfolgten sie in aller Ruhe das Treiben, bis schließlich die Erde mit toten Leibern bedeckt war.
    Krähen waren Aasfresser, so viel wusste Kathi. Auch dass man sich vor ihnen hüten sollte, nicht nur der Krankheiten wegen, die sie übertrugen. Die Krähen waren die Vorboten des Todes, und nicht wenige hielten sie für den Teufel selbst.
    Doch was war mit dieser Krähe los? Wieso kam sie hier ans Ufer? Die Schlachten wurden an anderer Stelle geschlagen, hier gab es kein Fressen. Weder Fisch noch Fleisch.
    Vorsichtig näherte sich Kathi dem seltsamen Vogel. Er schien keine Angst vor ihr zu haben, sondern blickte sie aus schwarzen Augen neugierig an.
    Vielleicht war es besser, diesem Teufelsvieh nicht zu nahe zu kommen. Wenn der Tod mit ihm reiste, sollte man sich ihm nicht in den Weg stellen.
    Andererseits hatte sie in der Bibel auch die Geschichte von dem Propheten Elia gelesen, der sich vor seinem zürnenden König an einem Wildbach versteckt hielt. Dort hatte er zwar genug zu trinken, aber kein Essen.
Gott sorgt für seine Kinder
, hieß es in der Bibel, und so hatte Gott Raben geschickt, die Elia mit Essen versorgten.
    So schlecht konnten Raben folglich nicht sein und ihre Geschwister, die Krähen, dann auch nicht. Kathis Neugier war groß.
    «Wer bist du denn?», fragte sie zögernd.
    Die Krähe legte den Kopf zur Seite und schaute sie mit unruhigen Augen an. Sie war größer als alle anderen, die Kathi bisher zu Gesicht bekommen hatte. In einem der Bücher des Apothekers Grein hatte sie gelesen, dass diese Krähen wegen der Laute, die sie ausstießen, auch
Kolk
genannt wurden. Manche behaupteten sogar, sie hätten solche Kolks schon grunzen und rülpsen gehört. Kein anderes Tier auf der Welt konnte das. Das war verdächtig.
    Sie streckte die Hand nach ihm aus.
    «Sag, hast du einen Namen?»
    Seine schwarzen Augen musterten die seltsame weiße Hand.
    «Du musst keine Angst vor mir haben. Ich tu dir nichts.»
    Diese Zutraulichkeit ging dem Kolk dann doch zu weit. Ein schneller Stoß mit dem Schnabel wies Kathi in die Schranken.
    Sie zog die Hand zurück. «Autsch. Ich will dir doch nichts tun.»
    «Das kann er nicht wissen», sagte der alte Mann, der das Netz geflickt und sich unbemerkt genähert hatte. «Die Fischer werfen mit Steinen nach ihm.»
    «Wieso machen sie das?»
    «Sie glauben, in ihm stecke der Teufel.»
    Kathi trat einen Schritt zurück. «Haben sie recht damit?»
    «Sie fürchten sich auch, wenn sie ihren Schatten an der Wand sehen. Sie sind wie Kinder.»
    Das wollte Kathi nicht gelten lassen. «Ich habe keine Angst vor meinem Schatten.»
    Der Alte schmunzelte. «Soso. Keine Angst …»
    «Wirklich.»
    Sie kam mutig näher, streckte die Hand nach dem Kolk aus und wurde abermals gepikst.
    «Schon wieder. Was mache ich nur falsch?»
    «Gedulde dich», beschwichtigte der Alte, «er muss dich erst kennenlernen. Außerdem ist er verletzt.»
    Er streckte seinen Arm aus, und wie auf Kommando hüpfte der Kolk darauf.
    «Was fehlt ihm?», fragte Kathi.
    Der Alte zeigte auf das Bein des Vogels. An einer kreisrunden Stelle fehlte das Gefieder. Sie war rot und voller Schorf.
    «Jemand hat ihm eine Falle gestellt», antwortete der Alte. «Eine Schlinge oder etwas Ähnliches. In diesen Zeiten ist niemandem mehr etwas heilig.»
    «Heilig?», fragte Kathi erstaunt. «Eine Krähe?»
    «Er ist keine Krähe, sondern ein Kolk, ein Rabe. Auch er ist ein
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