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Die Kinderhexe

Die Kinderhexe

Titel: Die Kinderhexe
Autoren: Roman Rausch
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sprechen, das Grein von ihr verlangte.
    «Pater noster, qui es in caelis …» Vater unser, der du bist im Himmel.
    Das Vaterunser hatte sie in Latein zu sprechen. Das war das Erste, was sie in dem Apothekerhaushalt gelernt hatte.
    Adveniat regnum tuum
 – Dein Reich komme.
    Auf jede Zeile folgte ein Schlag.
    Fiat voluntas tua
 – Dein Wille geschehe.
    Diesen Schlag führte Grein besonders hart.
    Sicut in caelo, et in terra
 – Wie im Himmel, so auch auf Erden.
    Genau das fürchtete sie. Der Schmerz sollte irgendwann mal ein Ende haben, spätestens im Himmelreich.
    Beim
Amen
angekommen, beendeten drei weitere Schläge die Unterweisung. Nun hatte sie sich zu erheben und folgende Worte zu sprechen:
    «Ich danke Euch, Herr, für die Unterweisung. In Demut will ich versprechen, Euch keine Sorgen mehr zu machen und besonnen an meine Arbeit zurückzukehren.»
    Grein nickte wohlwollend, fast schon versöhnlich. «Jetzt geh nach Hause. Deine Mutter wartet schon auf dich.»
    «Zuvor will ich noch beichten und das Abendmahl erhalten», erwiderte Kathi mit gesenktem Haupt.
    Auch diese Antwort war Bestandteil des Rituals. Dadurch ersparte sich Grein, noch ein Maul beim Abendessen stopfen zu müssen, wozu er als Lehrmeister eigentlich verpflichtet war. Dafür bezahlte Kathis Mutter schließlich gutes Geld.
    Nur einmal hatte seine Frau Henriette ihn darauf angesprochen, mit fatalen Folgen. «Vor dem Empfang der Eucharistie darf sie ohnehin nichts essen oder trinken», grollte er. «Oder willst du mir etwas anderes unterstellen, Weib?»
    Danach konnte Henriette das Haus für ein paar Tage nicht verlassen.
     
    Noch war eine halbe Stunde Zeit, bevor Kathi und ihre Mitschüler in Neumünster erwartet wurden. Zeit, die sie mit ihren Freunden Barbara, Otto und Ursula verbringen wollte. Humpelnd und mit schmerzenden Gliedern lief sie die Domstraße hinunter, vorbei an den Läden der Handwerker, dem Geschnatter der Passanten und dem beißenden Gestank der Abwässer, vorbei am Grünenbaum, dem Rathaus der Stadt, geradewegs ans Ufer, wo die Fischerboote vertäut lagen.
    Gegenüber, am anderen Mainufer, ragte der Frauenberg steil empor. Auf dessen Spitze thronte die bischöfliche Residenz mit Blick über die Stadt und das Tal. Die mächtige Burganlage war rundum geschützt von starken Mauern. Das Heer der rebellierenden Bauern hatte sie einhundert Jahre zuvor bezwingen wollen, war aber knapp gescheitert; die Rache des Bischofs, die über sie kam, war blutig.
    Dort oben, weit weg von den Entbehrungen des Volks, residierte Philipp Adolf von Ehrenberg, ehrfürchtig der
Hexenbischof
genannt. Er war der Nachfolger von Johann von Aschhausen und dem allseits geschätzten Julius Echter von Mespelbrunn. Allen dreien war gemeinsam, dass sie Stadt und Hochstift vom Unwesen der Hexen und Teufelsanbeter befreien wollten. Jeder legte in dieser Angelegenheit großen Eifer an den Tag. Doch Philipp Adolf war derjenige, der aus diesem Wettstreit als Sieger hervorgehen wollte.
    Kathi knurrte der Magen. Seit der Brotsuppe am Morgen hatte sie nichts mehr gegessen. Lange würde sie den Essensentzug nicht mehr verheimlichen können. Die Mutter achtete sehr darauf, dass es Kathi einmal bessergehen sollte als ihr. Dazu gehörte einerseits regelmäßiges Essen, andererseits eine gute Arbeitsstelle. Und genau das passte im Grein’schen Haus nicht zusammen. Ihre Mutter ahnte davon nichts, gottlob, sonst hätte Kathi eine Sorge mehr gehabt.
    Bevor Kathi zum Abendgebet ins Stift von Neumünster ging, musste sie etwas essen. Dass sie dadurch gegen das Essverbot der Kirche verstieß, kümmerte sie nicht. In weiser Voraussicht hatte sie ein Töpfchen selbst hergestellter Heilsalbe aus der Apotheke mitgenommen. Unter den Fischern würde sie sicherlich jemanden finden, der ihr dafür etwas gab.
    Anders als sonst lagen an diesem Abend bereits viele Boote vertäut am Ufer. Das war ein schlechtes Zeichen für das erhoffte Tauschgeschäft. Wahrscheinlich hatten die Fischer – wie in den Tagen und Wochen zuvor auch – keine Beute in dem von Leichen und durch Krankheiten verseuchten Wasser gemacht. Mit leeren Netzen waren sie an die Ankerplätze zurückgekehrt. Nun mussten sie der hungernden Bevölkerung mitteilen, dass auch im Main alles Leben erloschen war.
    Kathi schaute sich um. Wo waren Barbara, Otto und Ursula? Hatte sich niemand an ihrem gemeinsamen Treffpunkt eingefunden? Es war die wertvollste Zeit des Tages: Eine halbe Stunde, in der sie nicht unter der
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