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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67
Autoren: Lisa Tetzner
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fand, daß mit ihm sogar auf Kaffee und Kuchen verzichten lustig wurde. Dann pfiffen sie nämlich vier Minuten lang um die Wette oder aßen nur ihre trockenen Stullen, würgten schrecklich daran, schluckten und spuckten und nannten das »Glasscheiben futtern«. Ja, so war Vater Brackmann, und jeder begreift, daß es wirklich ein Vergnügen war, mit einem solchen Vater Sonntagsausflüge zu machen.
    Sie wanderten singend auf den See zu. Dort kannte Vater Brackmann eine Stelle, die weder sumpfig noch tief war, und sie durften ins Wasser gehen.
    »Zieht euch aus«, sagte er, »und dann rin ins Vergnüjen! Bis dorthin, wo det Ruderboot is, dürft ihr, weiter nich. Und wenn ihr ersauft, dann ruft vorher!«
    Erwin zog sich bereits aus, und er wunderte sich, daß Paulchen heute so langsam und schweigsam war. »Wat bummelste denn und besinnst dir so lange?« fragte er. Paul war plötzlich wieder eingefallen, daß das alles vielleicht jetzt zu Ende sein sollte. Er hatte schon gar keine Lust mehr, sich auszuziehen. Warum hatte sein Vater heute morgen gedroht, ihm diese Freude wegzunehmen? Es mußte doch irgend etwas Unerwartetes geschehen sein? Er hätte so gern gewußt, was es war. Er dachte dabei an allerhand. Hing es mit Vaters Arbeit zusammen? Mit seinem Lohn? Er wollte Vater Brackmann fragen. Der mußte es wissen, weil er mit Vater zusammen arbeitete. Es war, als ob Erwin seine Gedanken erraten hätte, denn er fragte plötzlich: »Du, Paule, wat war denn heute morgen los? Warum kamste denn so spät?«
     
    »Ach«, sagte Paul, aber er sah dabei nicht Erwin, sondern Vater Brackmann an. »Ich weiß nich, da ist wohl was mit Vater, er meinte wegen weniger Geld haben. Ich glaube, es hängt mit den schlechten Zeiten zusammen.«
     
    Vater Brackmann aber schlug sich mit beiden Händen gegen die Stirn und sagte: »Natürlich, Richter gehört zu den Entlassenen.« Und ganz laut sagte er zu Paul: »Jawohl, deinen Vater hat's geschnappt. Er ist arbeitslos geworden.«
     
    Nun war das Wort gefallen, vor dem sich Paul so gefürchtet hatte. Ein kleiner Junge, dessen Vater in die Fabrik geht, weiß, daß sich das ganze Leben verändert, wenn die tägliche Arbeit wegfällt. Er hatte es in der letzten Zeit immer wieder gehört und gesehen. Aber da es bis jetzt noch nicht seine Angelegenheit gewesen war, hatte er sich nicht darum gekümmert. Fünfzehn Jahre stand sein Vater schon im gleichen Werk hinter der Drehbank. Durch sie schien das Leben behaglich und sorglos. Nun sollte das auf hören?
     
    Erwin horchte auf und kam näher: »Wat sagst du da? Das ist ja eine dumme Kiste.« Aber mehr wußte er nicht zu sagen. Denn er sah gerade einen schönen, großen Schmetterling, dem jagte er nach, um ihn in seine Botanisiertrommel zu stecken. Und zum erstenmal ärgerte sich Paul über seinen Freund Erwin. Er wird ihn doch nur daheim aufspießen, und das ist »eine dumme Kiste«, nicht das andere, dachte er. Der Schmetterling tat ihm plötzlich leid. Er wünschte, daß Erwin ihn nicht bekommen sollte. Aber Erwin bekam ihn doch. Aus Freude darüber wollte er von Pauls arbeitslosem Vater überhaupt nichts mehr hören, sondern beschäftigte sich mit dem Schmetterling.
     
    Vater Brackmann war anders. Er klopfte Paul zärtlich auf die Schulter und sagte: »Sei man nicht traurig, das wird auch wieder anders. Vater find't schon was. Is ja ein tüchtiger Arbeiter. Und außerdem muß es auch bald besser werden für uns alle!« Aber dann sprachen sie nicht mehr darüber. Es waren schon so viele Väter arbeitslos. Morgen konnte es auch Vater Brackmann treffen.
     
    Am nächsten Tag ging Paul wie gewöhnlich zur Schule und am übernächsten ebenfalls. Er dachte schon: So sehr veränderte sich das Leben gar nicht! Denn daß sein Vater jetzt tagsüber zu Hause saß und die Zeitung las, störte ihn nicht.
     
    Aber eines Tages merkte er, daß das Essen anders eingeteilt wurde, und auf seiner Frühstücksstulle lag keine runde Wurstscheibe mehr, sondern nur Schmalz. Je länger Vater von seiner Drehbank wegbleiben mußte, um so mehr häuften sich derartige Dinge. Geld und Essen wurden immer knapper. Vater lief täglich herum und suchte eine neue Arbeit. Niemand konnte ihn einstellen. Einmal fand Mutter für einige Tage eine Aushilfsstelle. Da schien es wieder besser zu gehen. Aber dann war auch das vorbei. Und nun merkte Paul immer mehr, daß sich vieles verändert hatte.
     
    Er konnte wirklich nicht länger zu den Ausflügen mit. Zweimal hatte ihn noch Vater
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