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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67
Autoren: Lisa Tetzner
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Brackmann eingeladen, auf seine Kosten mitzukommen, aber Paul hatte selbst gehört, wie sein Vater zu ihm sagte: »Laß man, Karl, wer weiß, wie lange du selbst noch an deiner Stelle bist. Paul muß nich so verwöhnt werden. Ick geh' mit ihm in Stadtpark.« Und zu Paul sagte er: »Weißt ja, Junge, wieviel wichtiger für das Geld Brot oder Fett sind, als so ein bißchen Ausflug, auf dem man das teure Geld wegschmeißt.« Paul wußte das und sah das ein.
     
    Mit Vater in den Stadtpark zu gehen, war langweilig. Sein Vater war nicht Vater Brackmann. Er sagte überhaupt kein Wort. Er zog nur stumm an seiner Pfeife, und wenn er den Mund auftat, rief er höchstens: »Stoß doch nicht immer mit den Schuhspitzen auf die Erde, du wetzt unnötig die Schuhe ab.« Das machte wirklich nicht viel Spaß. Es gab auch sonst nichts Besonderes in einem Park zwischen Häusern und Straßen. Erwin, dachte Paul, mein Freund Erwin, der liegt jetzt im Wasser oder unter den grünen Bäumen, und am Abend bringt er Kaulquappen mit und baut ein Aquarium. Und dann stieg in ihm immer so etwas auf, daß er entweder mit den Schuhen die Steine aus dem Wege stoßen mußte oder losheulen. Denn die Sache mit Erwin quälte ihn am meisten. Seit mein Vater arbeitslos ist, da ist das keine richtige Freundschaft mehr. Der ist so stolz auf seine Botanisiertrommel, denkt an seine Schmetterlinge und macht sich wichtig. Was aus mir wird, kümmert ihn gar nicht! Deshalb fühlte sich Paul jetzt oft verlassen und dachte: Ach, nun erst recht! Dieses »nun erst recht« bedeutete: »Nun laß ich mir erst recht nicht merken, wie mir zumute ist und daß es gar nicht mehr schön ist seit Vaters Arbeitslosigkeit.«
     
    Eines Tages, als Paul seine Mütze aufsetzte, um in die Schule zu gehen, lief er gewohnheitsmäßig zuerst in die Küche zu Mutter und sagte: »Mutta, gib mir meine Frühstücksstullen!«
     
    Aber da sagte Mutter — und das gehörte auch zu einer der neuen Veränderungen des Lebens: »Paulchen, ich kann dir keine mehr mitgeben. Sonst langen wir nicht mit Brot und Fett, denn es gibt erst am Dienstag wieder Unterstützung.«
     
    Also ging Paul ohne Frühstücksbrot in die Schule, und Erwin merkte natürlich gleich, daß er keine Stullen aus der Tasche zog, als es zur großen Pause läutete und alle Jungen in den Hof frühstücken gingen.
     
    »Was ist denn los?« fragte er, »hast du's vergessen?«
     
    »Natürlich, wat denn sonst!« antwortete Paul. »Hab's vergessen.«
     
    Er sagte das sogar etwas unfreundlich, eben aus dem Gefühl, »nun erst recht nicht«.
     
    Erwin hatte aber wirklich sehr freundlich gefragt, denn wenn Erwin auch noch so glücklich war und am Sonntag mit seinem Vater aus der Stadt hinausfahren konnte, Kuchen essen, oder Schmetterlinge fangen, oder allerhand Pflanzen sammeln, er hätte es tausendmal lieber gehabt, wenn Paul dabei gewesen wäre, wie in alten Zeiten. Auf Pauls unfreundliche Antwort hin sagte er gar nichts, sondern teilte einfach sein Brot in zwei Hälften. »Da, nimm von mir.« Und nun konnte Paul nichts anderes tun als essen, denn er war hungrig. Er nahm das Brot und sagte: »Danke!«
     
    Aber einmal ging es ganz gut mit einer Ausrede von »vergessen«. Am nächsten Tage mußte er sich etwas anderes ausdenken, und er sagte: »Hab' keinen Hunger!« Das war eine sehr schlechte Ausrede. Jetzt bot ihm Erwin natürlich nichts von seinem Brot an.
     
    Erwin war aber nicht so gedankenlos, wie Paul glaubte. Als Paulchen jetzt niemals mehr Brot aus der Mappe zog, erschrak er und merkte: Richters müssen sparen.
     
    Nun kann man sehen, was Erwin für ein guter Freund war. Er ging fast jeden Tag zu Paul und sagte: »Du, Paul, nimm mir doch mein Brot ab, ich bin so nudeldicke satt und kann nicht mehr essen.« Das sagte er nur, weil er gemerkt hatte, daß Paul sonst das Brot nicht annahm. Paul aber sagte: »Na, meinswegen, gib's her.« Denn er war immer hungrig. Man konnte auch schon sehen, daß er nicht mehr ganz satt wurde. Er war viel schmaler geworden. Er sah auch blaß aus. Der Klassenlehrer hatte schon zweimal gesagt: »Richter, fehlt dir was? Bist du krank? Du siehst so schlecht aus!« »Ach nein«, antwortete Paul, »mir is nichts.« Er war hungrig. Aber das war ja keine Krankheit, sondern das kam von der Arbeitslosigkeit. Seiner Mutter und seinem Vater ging es auch nicht anders. Und schließlich konnte er nicht immer Erwins Brot essen, sondern mußte sich daran gewöhnen, nichts zu haben.
     
    Der Hunger allein
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