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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67
Autoren: Lisa Tetzner
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hätte sich vielleicht auch noch ertragen lassen. Aber schwer war etwas anderes. Er hatte nur einen dünnen Sommermantel. Inzwischen war es Winter geworden. Ein schrecklich kalter Winter. Jetzt fror Paul, daß er klapperte. Als wenn sich alles gegen ihn verschworen hätte, sah er eines Morgens, daß seine Schuhe ein großes Loch in der Sohle hatten. Während man sonst solche Löcher ohne großen Familienrat und Beschluß einfach zum Schuster trug, mußte man jetzt erst berechnen, ob Pauls Schuhe noch in der Woche oder in der nächsten oder übernächsten Woche besohlt werden konnten, weil erst Vaters Schuhe zum Besohlen fortgebracht werden mußten oder weil die Miete fällig war.
     
    Seht, solche Sorgen hatte Paulchen. Aber davon sprach er am liebsten nicht, sondern er spielte nach wie vor mit den anderen Jungen Murmeln oder ging mit ihnen über den Kellerfenstern angeln. Beim Angeln hatte man die Hoffnung, dann und wann ein Geldstück an den Magneten springen zu sehen. Ein Geldstück, das achtlose Passanten verloren hatten und das vom Asphaltrand der Straße aus in ein Kellerloch gerutscht war. Es blinkte dann, wenn man genau hinsah, zwischen den Gitterstäben der Keller, und mit Geduld und mit Hilfe eines Magneten oder eines Steckens mit feuchter Seife konnte es wieder ans Licht des Tages befördert werden. Glückte das, so vergaß man den Hunger und alles andere Traurige. Der Hunger hatte tückische Eigenschaften!
     
    Hatte er je zuvor auf die Semmelbeutel und Milchflaschen geachtet, die vor den Wohnungstüren standen, wenn er am Morgen zur Schule ging? Nein! Jetzt aber sah er ganz genau, beim Eismann Lange hatten sie noch nicht die Milch hereingenommen, im dritten Stock links bei der Witwe Weyermann hingen noch zwei Brötchen in dem bestickten Beutel an der Türklinke. Auch der Tischler Sperber und der Chauffeur Biedermann hatten Milch und Brötchen vor der Tür stehen. Und während er, Paul Richter, aus dem vierten Stock die Treppe herunterkam, mußte er bei jedem Absatz daran denken, wie Milch schmeckt und wie gut warme Brötchen sind, wenn man sie in der großen Pause aus der Schultasche ziehen kann. Er hatte nur eine magere Suppe oder Grütze im Magen, und er wußte, in der großen Pause würde er wieder dastehen und zusehen, wie alle anderen ihre Brote vertilgten, während er selbst Hunger hatte. Hier aber lagen vor seinen Augen Brötchen und standen Milchflaschen. Sie schienen keinem Menschen zu gehören, sondern nur auf ihn zu warten, und es war mit einemmal wie in den alten Märchen. Die Semmeln begannen mit ihm zu reden. Sie sagten: »Nimm mich mit. Ich will gegessen sein. Pack mich ein und iß mich auf.« Die Milch in den Flaschen bekam ein Gesicht und lachte ihm zu: »Trink mich doch, Paulchen, trink mich doch!« Weiß der Teufel, er mußte verhext sein. Es zuckte ihm in den Fingern. Er wollte zugreifen, aber dann rannte er schnell, doppelt rasch zur Haustür hinaus und schaute sich nicht mehr um, sondern sprang durch den Hof auf die Straße und lief zur Schule, die Hände in der Tasche.
     
    ›Quatsch‹, dachte er, ›ich bin doch kein Dieb!‹
     
    Wenn er aber in der vorletzten Stunde Hunger bekommt, und die anderen essen sieht, wird er unschlüssig und denkt: ›Einmal, nur ein einziges Mal, tu ich es doch.‹
     
    Eines Morgens kam er wieder die Treppe herab, er steckte seine Hände fest in die Taschen, um nicht zuzupacken. Aber plötzlich sagte eine Stimme in ihm ganz laut: »Ach, wegen so ein paar Semmeln!« und er blieb vor der Tür der Witwe Weyermann stehen, riß den bestickten Beutel vom Knopf und steckte ihn ein. Und vor der Tür des Chauffeurs Biedermann hielt er noch ein zweites Mal und nahm die Halbliterflasche Milch, stopfte auch sie in seine Tasche und rannte, ohne sich umzusehen, auf die Straße.
     
    In einem fremden Hausflur trank er die Flasche Milch aus. Und weil er so lange keine Milch getrunken hatte, staunte er, wie gut sie schmeckte. Die leere Flasche schob er heimlich unter eine Kellertreppe. In der Schulstunde seufzte er noch ein paarmal über das, was er getan hatte. Richtig war das sicher nicht, so viel wußte er schon. Aber nun war es nicht mehr zu ändern. »Wegen so ein paar Semmeln?« Hatte das nicht der Semmelbeutel selbst zu ihm gesagt? Ja, die Semmeln mußten verhext sein. Früher hatten sie nie mit ihm gesprochen. Er hatte sie überhaupt nicht angesehen. Oder hatte ihn der Hunger behext? Er konnte es nicht unterscheiden. Er wollte jetzt nicht darüber
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