Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67
Autoren: Lisa Tetzner
Vom Netzwerk:
Tritten und denkt: Es ist zum Davonlaufen! Sie zerkratzen mich, zerbeulen und beschmutzen mich und denken nicht daran, mich zu schonen. Aber freilich: solche Treppen sind sehr geduldig. Sie knarren höchstens einmal, aber sonst schweigen sie still und halten aus. Und das tut auch das ganze andere Haus, mitsamt seinen vielen Fenstern, Türen und Zimmern. Es knistert und knackt nur manchmal, aber dann verstehen wir nicht, was es bedeuten soll.
     
    Als Erwin einmal mit Paulchen im Hinterhaus saß, sagte er: »So ein Haus hat es viel besser als wir Menschen. Es braucht nich zu essen und nich zu trinken, is nie hungrig und hält doch feste, einen Tag wie den anderen und alles is gut.« Paul aber sagte: »Ich möchte trotzdem kein Haus sein und immerzu stinken wie das unsrige.«
     
    Daß es manchmal stank, war begreiflich. Ihr braucht euch nur auszurechnen, wieviel Leute in diesem Hause kochten. Denn jede Wohnung hatte ein Küche, und alle Küchen gingen auf den Hof, auf dem die Kinder spielen mußten. Bäume gab es hier nicht. Der Himmel mit der Sonne war weit über den Dächern, er schien so weit fort zu sein, daß sie fast nie zu ihm hinaufsahen. Sie merkten ihn nur, wenn es regnete oder wenn die Sonne so stark brannte, daß es ihnen zu heiß wurde. Wollten die Leute mehr von der Sonne und dem Himmel haben, so mußten sie aus der Stadt hinausfahren. Aber das konnten nur die Hausbewohner, die genug Geld in der Tasche hatten, um eine solche Reise zu bezahlen.
     
    Jetzt werdet ihr sicher gern wissen wollen, was für Berufe die Leute hatten, die in dem Haus mit den vielen Aufgängen wohnten. Die meisten Männer in dem Haus waren Arbeiter: Maurer, Tischler, Schlosser, Dreher, Setzer, Handlanger. Sie waren den ganzen Tag auf Arbeit. Denen ging es zu jener Zeit so schlecht, daß sie gar nicht mehr daran denken konnten, einen Ausflug zu machen, sondern froh sein mußten, wenn sie in dem Haus wohnen bleiben durften.
     
    Es gab Straßenhändler in dem Haus, Zeitungsverkäufer, Chauffeure, einen Eismann, der im Winter mit warmen Würstchen handelte, auch einige Ladenbesitzer, einen Briefträger und einen Straßenbahnschaffner, sogar einen Zauberkünstler.
     
    Und im Vorderhaus, über der Bäckerei Hennig, wohnte die Frau Manasse vom Maskenverleihgeschäft. Wenn sie die verschiedenen Masken und Tierköpfe, Ritterkostüme und Teufelsgewänder zum Lüften ans Fenster hängte, dann standen alle Kinder unter ihrem Fenster und hätten sich so gerne ein einzigesmal verkleidet. Aber Frau Manasse mochte die Kinder nicht und lieh ihnen nie etwas.
     
    Erwin Brackmann stand im Hof und pfiff nach Leibeskräften. Er hielt dazu drei Finger auf einmal in den Mund, und wenn er damit fertig war, trampelte er vor Ungeduld mit den Beinen hin und her. Donnerwetter, wo blieb denn Paulchen heute? Er war längst reisefertig. Seine Schirmmütze klebte tief über den Augen. Seine neue Botanisiertrommel hatte er fest unter den Arm geklemmt. Er hatte sie erst vor einigen Tagen von einer Tante geschenkt bekommen und wollte sie Paul vorführen. Der würde Augen machen.
     
    Erwins Vater stand im Torbogen zum Vorderhaus und wurde ungeduldig. Wenn Paul Richter noch lange auf sich warten ließ, dann verpaßten sie den Zug. Sie wollten doch ihren Sonntagsausflug machen. »Zu Mutter Grün«, wie Vater Brackmann das nannte. Er machte das seit Jahren mit seinem Erwin, und Paul durfte mit, weil Vater Richter Ausflüge nicht liebte. »Nee«, sagte der, »geht ihr man alleine! Wozu soll ich mir in die volle Vorortsbahn quetschen. Ich mach' mir nichts aus Nudeltopf!« Er ging lieber ins Wirtshaus und spielte Karten.
     
    »Jeder, wie er mag«, meinte Vater Brackmann. Die Mütter gingen auch nur selten mit, denn für alle war das Fahrgeld zu teuer, und sie mußten bei den kleinen Geschwistern bleiben.
     
    Dieser Paul, wo der bloß heute blieb? Erwin pfiff noch einmal drei Oktaven höher und dringender, um seine Ungeduld auszudrücken. Oben im vierten Stock des linken Seitenflügels, Eingang d, wurde endlich ein Fenster geöffnet, und Frau Richter, Pauls Mutter, beugte sich heraus. Sie sah ein bißchen verweint aus. Irgend etwas schien da nicht zu stimmen. »Paule kommt gleich«, rief sie herunter. »Geht man schon voraus!«
     
    Erwin wandte sich zum Gehen. Er hatte aber noch nicht das Tor verlassen, da kam Paul. Er knöpfte sich noch im Laufen seine Jacke zu, und die Schuhbänder flatterten rechts und links von seinen Beinen hinterher.
     
    »Wo bleibste denn so
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher