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Die Kinder aus Nr. 67

Die Kinder aus Nr. 67

Titel: Die Kinder aus Nr. 67
Autoren: Lisa Tetzner
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lange?« Erwin sah Paul erstaunt an. »Sonst bist du immer eine Viertelstunde vor der Zeit im Hof und trapst dir die Beine ab.«
     
    »Hier«, sagte Paul — er war noch erschöpft — »hier ist das Geld für die Bahn und den Kaffee«, und damit reichte er Vater Brackmann fünfzig Pfennige. »Schon gut!« sagte der und steckte das Geld ein.
     
    »Und nun machen wir Dauerlauf, damit wir den Zug um 35 noch erwischen!« Es war eine herrliche Sache, mit Vater Brackmann durch die stillen Straßen zu laufen. Immer hopp, hopp, eins, zwei — eins, zwei. Darüber vergaß Paul ganz, daß er noch vor zwei Minuten schreckliche Angst gehabt hatte, nicht mit zu dürfen. Nicht etwa, weil er sich hatte etwas zuschulden kommen lassen, sondern aus Gründen, die er zunächst noch nicht verstand und übersah. Das heißt, er wußte selbst nicht, was los war. Er wußte nur, daß sein Vater gestern sehr bedrückt heimgekommen war. Er hatte der Mutter etwas zugerufen, und die Mutter hatte gleich zu weinen angefangen. Sie wollte es scheinbar gar nicht glauben. Sie sagte immer: »Ach nee, nee, nur det nich!« Paul hatte sich nicht darum gekümmert, weil er gerade ein Barometer basteln wollte. Aber heute morgen, als er seinen Vater um das übliche Ausflugsgeld bat, da erkärte der Vater plötzlich: »Das geht nicht mehr. Das muß jetzt alles anders werden. Du bleibst von nun an hier. Ausflüge, det is Luxus. Du kannst auch uff de Straße spielen!«
     
    Paul erschien es schrecklich, an einem solchen warmen, schönen Sonntag in der Stadt zu bleiben und auf der heißen Straße zu spielen; schließlich hatten Erwins anhaltende Pfiffe und Mutters Bitten es doch noch erreicht, und da war er nun, und wollte gar nicht weiter darüber nachdenken, sondern sich einfach freuen.
     
    Freuen konnte man sich auf den Ausflügen mit Vater Brackmann unbändig. Gleich am Bahnhof fing es an. Der Zug war so überfüllt, daß keine Personen mehr ins Abteil gelassen werden sollten.
     
    Aber Vater Brackmann rief einfach: »Ach wat, in euerm Nudeltopf fehl' ich ja noch als det Beste. Je mehr ihr mit mir gekocht werdet, um so besser haltet ihr euch!« Da hob und zog man ihn lachend hinein. Auch Erwin und Paul krochen dazwischen, und dann ging die Tür nur mit Mühe und Not zu. Keiner konnte sich mehr rühren. Erwin mußte seine Botanisiertrommel ganz dicht unter das Kinn heraufziehen, damit sie ihm nicht zerquetscht wurde. Aber Vater Brackmann fand das alles knorke. Er erzählte sofort eine Geschichte von den Heringen in der Tonne, die besser würden, je mehr sie gepreßt und je enger sie gelagert würden. Alle Mitreisenden mischten sich ins Gespräch. Sie lachten und nannten Vater Brackmann den »Oberhering«. Unaufhörlich erzählte Vater Brackmann Geschichten oder ließ die Umstehenden Gegenstände raten. Keine Minute langweilte man sich mit diesem Vater. Wenn die Leute aussteigen mußten, waren sie ordentlich traurig. Sie wünschten ihm guten Sonntag und winkten ihnen. Auch wenn sie allein waren, blieb es lustig, denn dann spielte Vater Brackmann »Ich sehe was, was du nicht siehst«, und zwar sah er nicht Dinge im Wagen, sondern Dinge, die in der Fahrt draußen vorüberflogen. Paul und Erwin drängten sich an die Fensterscheibe, um in der gleichen Fahrgeschwindigkeit diese Dinge zu erwischen und dann triumphierend zu erkären: »Das Haus dort! Nein, der Hund da! Jener Baum dort!« Paulchen war fast neidisch, daß er nicht so einen Vater hatte. Denn in allen Dingen war dieser Vater etwas Besonderes.
    Einmal hatte er miterlebt, wie Erwin beim Ballspiel am Sonntag in Grünau ein Fenster einschlug. Paul hatte ihn sogar im Verdacht, daß es nicht so ganz aus Versehen geschah. Und dann lief er einfach zu seinem Vater und sagte: »Au wei, Vater, guck mal, was mir passiert ist!« Paul wußte genau, wenn es ihm passiert wäre, wäre er sofort weggelaufen, um's ja nicht gewesen zu sein. Erwins Vater aber kam, besah sich den Schaden und sagte nur: »Dumme Sache, wirklich dumme Sache! Aber das kann Vorkommen, das ist mir früher auch passiert!«
    Paul blieb der Mund offenstehen vor Staunen, als er das hörte. Freilich, sie verzehrten dann mehrere Male auf ihrem Sonntagsausflug keinen Kaffee und Kuchen, denn irgendwie mußte die Sache wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Erwins Vater war kein reicher Mann. Er war ein Arbeiter, genau wie Vater Richter, und arbeitete mit ihm im gleichen Betrieb. Aber Vater Brackmann hatte eine Art, solche Dinge zu tun. Wunderbar! Paul
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