Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stumpfsaft - Bericht aus Bezirk 12 (Dystopische Kurzgeschichten) (German Edition)

Stumpfsaft - Bericht aus Bezirk 12 (Dystopische Kurzgeschichten) (German Edition)

Titel: Stumpfsaft - Bericht aus Bezirk 12 (Dystopische Kurzgeschichten) (German Edition)
Autoren: Sean Beckz
Vom Netzwerk:
Stumpfsaft
     
    Meinen amputierten linken Unterschenkel bekam ich per Post
zugeschickt, obwohl ich keine Verwendung mehr für ihn hatte. Mein rechter stand
schon in einer der Vitrinen des Gemeinschaftsraums und der zweite würde
ebenfalls seinen Platz dort finden. Ich öffnete den schwarzen, länglichen
Karton und zog den ehemaligen Teil meines Körpers behutsam aus der Verpackung.
Er war hervorragend plastiniert worden und machte einen guten Eindruck. Nicht
so einen guten Eindruck wie im Betriebszustand, aber dies war OK. Es war
deshalb OK, da ich mir der möglichen Strafen immer bewusst gewesen war. Ich war
zweimal aus dem Gefängnis fortgelaufen und beide Male erwischt worden.
Amputationen waren die Strafe und dies wusste jeder Bürger dieses Landes.
Meinen zweiten Fluchtversuch konnte man nur als grotesk bezeichnen und
rückblickend hatte ich mich angestellt wie ein Trottel! Es war eher der Versuch
eines Davonhüpfens gewesen, denn meine provisorisch gebastelte Prothese hielt
gewaltige zwei Minuten, bevor sie splitternd wie morsches Holz, das ewig in der
Sonne gelegen hatte, auseinanderbrach. Dies kostete mich meinen zweiten
Unterschenkel, den ich lächelnd in der Hand hielt. Warum ich lächelte und nicht
traurig war? Meine Eltern hatten mir beigebracht, auch in schwierigsten
Situationen das Positive zu sehen und dies versuchte ich stets. Vater betonte
immer, es sei wichtig, über sich selbst lachen zu können und auch daran
erinnerte ich mich oft. Darüber hinaus lag noch ein weiterer, zweifellos besser
fassbarer Grund vor, um zu Lächeln, denn letztlich hatte ich mein Ziel
erreicht.
    In Bezirk 12 lebten nach offiziellen Informationen 20
Millionen Menschen und knapp die Hälfte von ihnen befand sich in staatlichen
Gefängnissen. 4/5 aller Polizisten verrichteten ihren Dienst in diesen
Gefängnissen, die eher Städten glichen. Der Job bei der Polizei war unbeliebter
als je zuvor und daher wurden zukünftige Polizeikräfte zwangsweise aus der
Bevölkerung rekrutiert. 20 Jahre mussten sie sich verpflichten und sie
arbeiteten, wohnten und schliefen in diesen gigantischen
Strafvollzugsanstalten. Die Gefangenen, sie sie rund um die Uhr bewachten,
saßen zehn Jahre ein. Nicht neun, nicht elf, sondern genau zehn Jahre, ohne das
Recht auf vorzeitige Entlassung oder Wiederaufnahme des Verfahrens. Danach
wurden sie entweder entlassen oder geschreddert. Überhaupt gab es im
Rechtssystem der Bezirke nur drei Arten von Strafen für den Bürger: Zehn Jahre
Haft, zehn Jahre Haft mit anschließendem Schreddern oder sofortiges Schreddern.
Das Schreddern von Menschen, das offiziell Rezyklierung genannt wurde, war vor
einem viertel Jahrhundert immer moderner geworden, da es galt, günstige
Lebensmittel herzustellen, die nach der großen Seuche knapp bemessen waren.
Nahrung und Unterhaltung brauchte das gemeine Volk, um Unzufriedenheit im Keim
zu unterdrücken. Für die geliebte Führung war dieses Unterfangen nicht leicht
bei 198 Bezirken, deren Bürger alle satt werden wollten. Laut der
Staatsführung, die, soweit ich weiß, unseren Bezirk noch nie besucht hatte, 
spielte der Hunger eine große Rolle beim Untergang der ehemaligen
Nationalstaaten, aber Informationen zu unserer Vergangenheit waren knapp gesät
und existierten offiziell überhaupt nicht. Hier und dort gelangte man
gelegentlich zu einer Speicherkugel mit geschichtlichen Aufzeichnungen, die man
sich in einem Netzraum heimlich anschauen konnte. Dort erfuhr man erstaunliche
Dinge über Sportereignisse, fröhliche Menschen, demokratische Strukturen,
andere Länder und historische Entwicklungen. Leider immer nur Fragmente, nie
die große Übersicht. Ob diese Informationen überhaupt einen Wahrheitsgehalt
besaßen, konnte niemand bestätigen.
    Ich hielt mich lieber an die Fakten und die sahen momentan
wie folgt aus: Ich stand auf meinen Beinstümpfen an der Poststelle des
Ministeriums und hielt meinen Unterschenkel in der Hand. Dies war die letzte
Warnung, denn beim nächsten Male würde selbst ein Staatsdiener wie ich
geschreddert werden. Da die Versorgung mit Medikamenten und anderen
medizinischen Gütern knapp bemessen und zumeist der Elite vorbehalten war,
bewegte ich mich auf der bloßen Haut meiner Oberschenkel voran. Anfangs fühlte
sich dies noch wie ein Barfußlaufen auf spitzen Kieselsteinen an, aber in den
letzten Monaten, spürte ich kaum noch etwas in diesen Gliedmaßen. Meist waren
diese Stellen entzündet und nässten pausenlos vor sich hin. Stumpfsaft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher