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Die Ketzerbibel

Die Ketzerbibel

Titel: Die Ketzerbibel
Autoren: Elisabeth Klee
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sich ein langer Gang unter offenem Himmel, von dem rechter und linker Hand Türen in die Quergebäude führten. An seinem Ende öffnete er sich in einen weiten Hof mit Wirtschaftsgebäuden, Ställen und einem Garten.
    Die Infirmaria Jeanne hielt eine Tür zur Rechten auf, die in das kleine Hospital führte, einen weiten Raum mit je vier Bettkästen an jeder Längsseite. Jedes dieser Betten konnte im Notfall doppelt belegt werden, Kopf an Fuß, und besaß einen Vorhang, mit dem man die Kranken vor Zugluft und Blicken schützen konnte.
    Calixtus legte die Frau auf ein leeres Bett. Schwester Jeanne betätigte eine Glocke an einer Schnur, und auf das Läuten hin kamen nun weitere Frauen und machten sich daran, die Ohnmächtige zu entkleiden, zu waschen und warm zuzudecken.
    «Mein Gott! Die ist ja wohl vor nicht allzu langer Zeit geschoren worden!», sagte eine. «Und sie sind dabei nicht gerade zimperlich gewesen!»
    «Tsk! Und geteert und gefedert! Na, was das wohl für eine ist?», fragte eine andere.
    «Eine Diebin!»
    «Nein! Denen hackt man die rechte Hand ab!»
    «Dann eine Betrügerin!»
    «Eine Hure!»
    «Ach, dazu ist sie nicht hübsch genug!»
    «Du musst es ja wissen, Magdalène!»
    «Schscht! Kinder, schämt euch! Was ist das für ein unchristliches Benehmen!», ertönte eine strenge Stimme hinter den Frauen. Juliana war eingetreten, die Grande Dame, die Meisterin des Beginenhofes, deren Rang einer Äbtissin entsprach.
    Juliana trat an das Bett und betrachtete die reglose Bettlerin. Dürr und ausgehungert war sie, nicht mehr als Haut und Knochen. Und so farblos wie die Fetzen waren, die sie getragen hatte, so bunt war der Rest von ihr: Am rechten Wangenbein bildete sich ein rötlichblauer, blutunterlaufener Fleck. Finger und Zehen trugen violette Spuren von Erfrierungen. An Hals und Armen sah man ältere Verletzungen: die gelbgrünlichen Hinterlassenschaften von Schlägen, hellrote Stellen, wo die Haut verbrannt gewesen war und nun grindig verzogen über den Knochen spannte wie ein schlechtsitzendes Kleidungsstück. Die Kopfhaut war mit halbverheilten Brand- und Schnittwunden gescheckt, stellenweise wuchs das Haar in kurzen Büscheln nach, lockig und dunkelbraun.
    «Armes Ding! Was haben sie ihr nur angetan», murmelte die Meisterin nachdenklich. Sie sah in das blasse Gesicht der Fremden: Es war nicht schön, aber wohl proportioniert und angenehm. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, da sie offenbar schwere Zeiten hinter sich hatte. Sie mochte vielleicht Mitte zwanzig sein, möglicherweise auch jünger. Sie hatte ein breites, flaches Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer geraden Nase, deren Flügel leicht nach oben gebogen waren. Ihre Stirn war ungewöhnlich hoch, die Brauen dunkel und dicht. Die Kinnpartie ließ Eigensinn ahnen, die Lippen waren voll und wohl geformt, wenn auch rissig. Doch die Mundwinkel zogen sich etwas abwärts, und die steile Falte zwischen den Brauen sprach von Enttäuschungen und Not.
    Bruder Calixtus, der sich abgewandt hatte, solange die Fremde entkleidet und gewaschen wurde, war wieder an das Bett getreten.
    «Sie hat das Kind verteidigen wollen. Ich glaube nicht, dass sie eine gewöhnliche Bettlerin ist», sagte er. «Und eine Verbrecherin schon gar nicht.»
    «Nein», sagte Juliana. Ihre Fingerspitzen strichen ganz sacht über das magere Gesicht und die dunklen Schatten unter den Augen. «Vielleicht werde ich kindisch in meinem Alter und suche nach Wundern und Märchen. Aber ich meine fast, es sei etwas Besonderes an ihr. Sie rührt mich. Ich habe das Gefühl, dass sie uns eine interessante Geschichte erzählen wird, wenn sie aufwacht.»
     
    Als sie erwachte, hörte sie jemanden schluchzen. Sanfte Stimmen kamen aus einem weißen Nebel. Jemand redete beruhigend auf sie ein. Etwas Weiches, Nasses, Kühles berührte ihre Stirn. Etwas Warmes stieß an die Schwelle ihres Mundes, hart, körnig, rau: Ton – ein Gefäß – eine Schale. Eine süße Flüssigkeit floss, jedoch mit einem bitteren Nachgeschmack   – Kräutertee? Honig. Sie fühlte: Lippen, Zähne, Zunge – ihre Zunge, ihre Lippen, das Gesicht, den Kopf auf dem Kissen, ein schwerer Körper, matt und zerschlagen und doch lebendig. Sie hörte auf zu schluchzen. Ihr Selbst war noch zu groß, um es zu erfassen. Die Lippen, die Zunge, die Muskeln in der Kehle taten, was sie zu tun gewohnt waren, und schluckten.
    «Ja – gut. So ist es gut», drang eine Stimme von weither aus dem weißen Nebel.
    Sie trank die Schale
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