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Die keltische Schwester

Die keltische Schwester

Titel: Die keltische Schwester
Autoren: Andrea Schacht
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wenn man nicht bummelt. Aber darüber habe ich auch lieber den Mund gehalten. Ein bisschen Heldenverehrung brachte sicher Farbe in Karolas Leben.

2. Faden, 3. Knoten
    Der Weise war alt geworden, und solange er lebte, hatte das Glück die Menschen seines Stammes nicht verlassen. Sie hörten auf seinen Rat und hatten ausreichend Nahrung, auch in schlechten Zeiten. Sie wussten bald Vorräte anzulegen und kannten die Tage, an denen sie das Meer meiden mussten. Als der Weise erkannte, dass seine Zeit bald abgelaufen sein würde, gab er Anweisung, einen Stab an die Stelle zu stecken und Muscheln nach seinen Anweisungen in die Erde zu drücken.
    »Warum machst du das da?«, wollte die Tochter der Tochter seiner Tochter von ihm wissen. Er sah das kleine Mädchen lange an und las in ihrer Seele.
    »Weil ihr an dem Schatten auf den Muscheln erkennen könnt, wann die Zeit zum Sammeln der Vorräte kommt, wann die Tage beginnen, wieder länger zu werden, wann die großen Stürme zu erwarten sind.«
    Und er zeigte ihr die rosa Muschel, die der Schatten traf, wenn der längste Tag des Jahres gekommen war. Er zeigte ihr auch die Bedeutung der anderen Muscheln und ließ sie immerund immer wiederholen, welche Bedeutung die einzelnen Zeichen hatten. Das Mädchen war gelehrig und hatte ein gutes Gedächtnis. Bald konnte sie den monotonen Singsang des Jahreskreises jederzeit wiederholen.
    Der Weise wurde schwächer und schwächer, als die Tage sich der dunklen Sonnenwende näherten. Noch einmal bat er, an die Stelle gebracht zu werden, wo er so viele Stunden in stiller Versenkung verbracht hatte. Das Mädchen begleitete ihn und setzte sich neben ihn. Die anderen schickte er fort. Lange blieben der alte Mann und das Kind schweigend beieinander sitzen. Schließlich wurde die Kleine ungeduldig.
    »Warum sind wir hier, alter Vater?«, wollte sie wissen.
    »Weil ich bald in eine andere Welt gehe und dieses hier die rechte Stelle dafür ist.«
    Die Kleine bekam große Augen und flüsterte angstvoll: »Muss ich mitgehen?«
    »Nein, natürlich nicht. Doch ich möchte, dass du die Bedeutung dieses Platzes kennst.«
    »Och, nur das? Das weiß doch jeder inzwischen.«
    Er lächelte, zog die Kleine näher an sich heran und legte ihr seine Hand auf den Kopf.
    »Wenn du an dieser Stelle sitzt und ruhig wartest, dann wirst du vieles sehen, was andere nicht erkennen können. Dies ist ein Ort, an dem wunderbare Dinge geschehen, wenn man bereit ist, über die Schwelle zu gehen.«
    Die Kleine schüttelte den Kopf und sah den alten, verwitterten Mann an.
    »Ich weiß nicht, was du meinst, ehrwürdiger Alter.«
    »Doch, kleine Tochter. Du wirst es bestimmt erkennen. Deine Augen sagen es mir.«
    Er machte eine lange Pause, und das Mädchen begann, unruhig hin und her zu rutschen. Aber sie traute sich nicht, einfach fortzugehen. Schließlich sprach der Weise noch einmal.
    »Hier ist die Wand dünn und durchlässig, die uns von dem Wissen der Erde trennt. Horche gut auf ihren Rat, meine Tochter. Höre, was sie dir sagt, die weise Mutter. Lerne von ihr und gib ihr Wissen weiter.«
    Mit einer kraftlosen Geste ergriff er die weiche, kleine Hand seiner Urenkelin und legte sie auf den Boden.
    »Höre.«
    Das Mädchen schloss die Augen und lauschte. Als ein großes Staunen über ihr Gesicht huschte, lächelte er.
    »Hat sie gesprochen?«
    »Ja, alter Vater. Ja.«
    »Was hat sie gesagt?«
    »Ich weiß es nicht in Worten. Aber ich glaube, es bedeutete ›Ich bin‹. Kann das denn sein?«
    »Ja. Das ist der Beginn. Nun wirst du sie immer hören.« Mühsam sog der alte Weise noch einmal die salzige Luft ein, die vom Meer her wehte. »Nun geh, Tochter. Ich bin müde geworden.«
    Das Mädchen beugte sich zu ihm und küsste seine Wange, dann ging sie gehorsam fort. Der Alte aber legte die Hände flach auf den warmen Boden und lauschte dem Gesang, den nur er hören konnte.

    »Ich bin.
    Ich bin der Schoß, der Tod, das Leben.
    Ich bin das Netz, an dem wir weben.
    Ich bin Grund, dass alles werde.
    Ich bin die Erde.
    Ich bin.«

4. Faden, 1. Knoten
    Da war er wieder, das zweite Mal schon an diesem Abend. Ein langer Blick aus hellen, blauen Augen. Ich war nicht unangenehm berührt, ja, es begann sogar ein bisschen zu kribbeln. Aber ich begegnete dem Blick nicht. Noch nicht. Ich trank einen Schluck Wein und setzte das Gespräch fort.
    »Und Dr. Koenig, was für einen Eindruck hast du von ihm?«
    Wulf ließ den Kellner den Teller wegnehmen und meinte dann: »Ich bewundere ihn
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