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Die keltische Schwester

Die keltische Schwester

Titel: Die keltische Schwester
Autoren: Andrea Schacht
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herausgefordert. Gehst du wirklich schon, Lindis?«
    »Ja, Wulf. Ich gehe jetzt. Ich habe morgen zu arbeiten, und es ist schon halb eins. Wenn ich meinen Schönheitsschlaf nichtbekomme, kann ich morgen in Koenigs Schloss nicht das Prinzesschen geben.«
    Er trug es mit Anstand und geleitete mich noch hinaus bis zu meinem Wagen. Ein zarter Gute-Nacht-Kuss war natürlich doch noch drin. Vielleicht auch zwei.

2. Faden, 4. Knoten
    Die Urenkelin des Weisen wuchs zu einer schönen, kräftigen jungen Frau heran. Sie saß, wie der Alte, oft mit versonnenem Blick an seinem Lieblingsplatz, und immer kam sie von dort zurück und hatte neue Lieder. Sie sang von der Erde und den Gezeiten, vom Wachsen und Blühen, von Gedeihen und Reifen der Pflanzen. Sie sang von der Saat und dem Keimen, von Tod und Verwesung.
    Sie sang von dem göttlichen Kind, das in der kalten Winternacht geboren wurde, wenn der Boden frosthart und alles Leben zum Stillstand gekommen waren.
    Sie sang von dem Jüngling, der heranwuchs wie die hellgrünen Triebe, wenn die Frühlingssonne den Boden wärmte.
    Sie sang von dem starken Gott, dem kraftvollen Helden und Krieger, der auszieht, seine Bestimmung zu suchen.
    Sie sang von dem liebenden Gott, der seine Göttin findet und bei ihr liegt, inmitten der blühenden Wälder, wenn der junge Mond über seinem Haupt stand.
    Sie sang vor der Fruchtbarkeit der Erde, den reifenden Früchten, dem goldenen Korn und der neuen Saat.
    Sie sang von dem sterbenden Gott, der nach der Ernte sein Blut für die Erde gab, um mit seinem Opfer den Samen in den Boden zu legen, der in der dunkelsten Nacht aufbrechen würde, um den Kreis des Lebens neu zu beginnen.
    Sie sang, bis die Ersten ihrem Rat folgten und die mühsam gesammelten Körner des wilden Emmer in den Boden versenkten.
    Und als die Frauen, die gesät hatten, dann entdeckten, dass sie im folgenden Jahr eine reiche Ernte hatten, genau vor ihren Hütten, wo sie die Samen ausgestreut hatten, war die Freude unermesslich.
    Mit dem Wissen um die Jahreszeiten, dem Wunder des Wachstums, wurde die Gemeinschaft reich. Doch sie vergaßen nie, wem sie den Reichtum zu verdanken hatten. Sie verehrten die Göttin Erde, aus deren Schoß die Pflanzen wuchsen, sie verehrten den Gott, der den Samen dazu legte.
    Sie verehrten auch die Frau als ihre Priesterin, die ihnen den Rat der Erde überbracht hatte.
    Die Priesterin gab das Wissen ihren Töchtern weiter und sie den ihren. Und diese Frauen zogen später mit den Gruppen ihrer Männer weiter in das Innere des Landes.
    Der Stab und die Muscheln jedoch, die der Weise an dem seltsamen Ort angeordnet hatte, waren allmählich verschwunden. Wind hatte sie verweht, Regen weggewaschen. An anderen Stellen hatte man Male angebracht, nach denen man sich richten konnte, wann die Sonne sich wendete und die Zeit zum Säen, zum Sammeln und Ernten kam.
    Doch weil die Weisen und die Priesterinnen sich oft an diesen Platz zurückzogen, wurde es ein heiliger Platz für das Volk. Dort verehrten sie die Geister der Ahnen, die Göttin und den Gott, brachten ihnen bunte Blumen und glänzende Muscheln, zarte Flaumfederchen und glatte Kiesel. Dort sangen und tanzten sie und baten die Alten um Hilfe oder Rat.

5. Faden, 1. Knoten
    Ich schloss die Tür zu meinem Mini-Apartment auf und schleuderte die Schuhe zur Seite. Warum war ich nur so unzufrieden mit mir? Hätte ich doch die Nacht bei Wulf bleiben sollen? War es das? War es die Einsamkeit in meinem kalten Zimmerchen, die mich so mieslaunig machte. Oder war es die Enge und die hässlichen Möbel? Oder etwas ganz anderes?
    Müde war ich jetzt überhaupt nicht mehr, auch wenn es schon langsam auf halb zwei zuging. Ich nahm mir noch ein Glas Saft aus dem Kühlschrank, machte das Licht aus und setzte mich auf den Bettrand. Von hier konnte ich aus dem Fenster auf die dunkle Straße sehen.
    Es war noch winterlich, die kahlen Bäume malten ihr schwarzes Filigranmuster in den Himmel, der von einem schmalen Mond beleuchtet war. Die Straßenlaternen waren weit voneinander entfernt und bildeten gelbliche Lichtflecke auf dem Bürgersteig. Mülltonnen standen Spalier, und zwischen ihnen nahm ich einen huschenden Schatten wahr. Vielleicht eine hungrige Katze auf der Suche nach ein paar genießbaren Überresten. Mäuse gab es wahrscheinlich nicht in dieser Gegend.
    Was war nur los mit mir? Eigentlich hätte ich zufrieden sein müssen. Ich hatte einen interessanten neuen Job, der mich ausfüllte, aber nicht überforderte, das
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