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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf
Autoren: Jakob Wassermann
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auch ein leidendes Gesicht, das er gewahrte, das mit hineingerissen wurde in den Strudel und versank. Erschüttert wollte er fliehen, doch schon war Gudstikker neben ihm, der ihn führte, – durch die menschenleeren Gassen der Stadt.
    Warum, warum ist das alles? fragte Agathon flüsternd. Aber nichts gab ihm Antwort, während Gudstikkers Nähe mehr und mehr beklemmend auf ihn wirkte. Und er sah durch die Mauern der Häuser, armer und reicher Häuser; er hörte Angstrufe, Hilfeschreie einer versinkenden Gesellschaft, einer Welt, die wie ein Schiff sich langsam mit Wasser füllt, um unrettbar in den Abgrund zu tauchen. Bis jetzt war es nur das offene Spiel gewesen, das lediglich zum Schein den Stempel der Heimlichkeit trägt, und um jenen Anstand zu wahren, der noch die letzte Klammer der berstenden Wände bildet. Er sah, daß jedes Haus eine Wunde hatte, die unheilbar war; daß jede Tür eines jeden Zimmers mit unverlöschlichen Lettern das Gedächtnis eines schweren Makels aufbewahrte; daß jedes Glas eines jeden Fensters auf Dinge geschaut, die besser in dichtem Dunkel begangen worden wären; daß kein Schläfer unter allen so ruhig schlief, daß selbst seine reinsten Träume nicht durch den Nachhauch eines begangenen Frevels getrübt wurden, daß die Bereitwilligkeit, sich zu verkaufen, in keinem verschlossenen Haus geringer war, als in jenen öffentlichen; daß das Glück und die Ruhe aus den Zügen des Lebens verwischt waren und daß der Weinende wie der Lachende eine Maske trägt; daß die Händler des Fleisches und die Händler des Geistes bei Tag und Nacht, jahraus, jahrein durch die Gassen gehen und harmlos scherzend Gift säen; daß die Kaserne und das Spital, der Palast und das Gefängnis, die Kirche und das Wirtshaus, das Theater und die Schule von einem Schmerz gepeinigt, von einer Lüge erhalten, von einer Hoffnung betrogen werden. Und Agathon sah das Ziel in der Ferne zerstäuben zu nichts, die Fackel, die seinen Weg erleuchtet, langsam vergehen und erkannte, daß er gegen die gigantische Masse des Elends nichts war als ein Kind, das mit seinen Händchen Gebirge abtragen will. Und Jude oder Christ, was bedeutete ihm das noch gegenüber diesem heimlichen und lautlosen Kampf, der hier zwischen schlafenden Mauern geführt wurde? Jude und Christ hatten in gleicher Weise dazu beigetragen, das Jahrhundert dorthin zu führen, wo es stand, und ihre Todeszeugen fielen einander grinsend in die Arme und schlossen Bruderschaft.
    »Gute Nacht, Bester, « sagte Gudstikker jovial, als sie vor seinem Haus standen. »Ich denke, meine Dienste haben Ihnen gut getan. Die Welt ist viel größer, als Sie glauben. Setzen Sie sich auseinander mit ihr, gute Nacht.«
    Agathon nahm den Gruß verständnislos hin und blieb, als er sich allein sah, lange Zeit an derselben Stelle stehen. Mit dem Verschwinden Gudstikkers waren die Bilder und Gesichte vorbei. Agathon hatte kein Bett, keinen Zufluchtsort, begehrte keinen Zufluchtsort, begehrte keine Ruhe. Betrunkene taumelten an ihm vorbei, gröhlend oder still, begeistert oder trübsinnig. Alles was noch lebendig war auf den Straßen, wurde durch den Geist der Besoffenheit bewegt, der einen übelriechenden Dunst erzeugte. Dieser Geruch wird auch morgen das öffentliche Leben durchdringen und die Seelen der Besseren unmutig machen; er wird jede Frau, die schlaflos an dem Lager ihrer Kinder brütet, den Mann und die Liebe verachten lassen und wird alle Gefühle der Anmut und Frische zerstören, jede Vereinigung von Kräften unterwühlen.
    Agathon war im tiefsten Herzen verzweifelt.
    Vielleicht gab es noch eines, was ihn aufrichten konnte. Die Gestalt Bojesens erhob sich plötzlich aus der Vergangenheit, von einem übertriebenen Nimbus verklärt. Agathon blickte auf sie hin, wie auf eine tröstende Gestalt. Ehe er es überlegte, befand er sich schon vor dem Haus, in dem der Lehrer wohnte. Da das Tor bei der späten Stunde schon geschlossen war, ließ sich Agathon kraftlos auf die feuchten Steinfließen nieder, umschloß die Knie mit den Armen und wartete. Er wartete ohne Empfindung für das Vorbeifließen der Zeit. Im dritten Stock, wo Bojesen wohnte, öffnete sich bisweilen ein Fenster. Die Uhren schlugen eins, zwei, schlugen drei. Die Finsternis der Gasse schien klebriger und körperlicher zu werden.
    Aber war das nicht Bojesen, der vor ihm stand? Diese etwas zusammengekrümmte Figur, die den Hut schief auf dem Kopf sitzen, die Hände tief in den Taschen vergraben hatte? Waren das
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