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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf
Autoren: Jakob Wassermann
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Weise. Es war ihm, als ob sich seine Haut löste. Dabei glaubte er fortwährend zu sinken, durch zahllose Wiederholungen desselben Raumes zu fallen.
    Die Bauern wurden aufmerksam. Sein totenbleiches Gesicht übte auf sie den Zauber einer Erscheinung. Sie standen alsbald um ihn her, und einige, die höhnisch gelächelt hatten, lächelten nicht mehr, als er zu sprechen begann. Seine hohle und erschöpfte Stimme klang gedämpft und füllte trotzdem den Raum, sie hatte etwas Klingendes und Messerscharfes. Seine Rede schien von einem unsichtbaren Wesen zu kommen, das ihn umfangen hielt, denn er blieb so bewegungslos, als ob seine Glieder gefesselt seien. Es war der Schmerz und der Zorn des Königs selbst, der in geheimnisvollem Bündnis mit dem Redner zu stehen schien, dieses Königs, der ein Märtyrer seines Amtes und dessen Geist nicht, aber dessen Herz wahnsinnig geworden war.
    Die Wirkung von Agathons Worten, die für ihn selbst einem Fiebertraum glichen, war auf die Bauern eine wahrhaft beängstigende. Sie schrien, tobten, stiegen auf Tische und Bänke, fuchtelten mit den Händen umher, zerbrachen Gläser und Fensterscheiben, hoben Agathon auf ihre Schultern, daß sein Kopf an die Decke stieß, schlugen den Wirt nieder, der sie besänftigen wollte, und in kurzer Zeit hatte sich die Furie eines tierischen Rausches durch das ganze Dorf verbreitet. Ein alter Bauer, dessen eines Auge verklebt war, fluchte und heulte beständig, eine Art Hausierer oder Kärrner schwang eine Sense, versammelte die jungen Leute um sich und wollte mit ihnen über den See nach dem Schlosse fahren. Agathon, nicht mehr fähig, zu gehen, zu sprechen oder zu handeln, war dem Gewühl entflohen und saß mit leeren Augen in einem Winkel der Schenke. Er war verwundert und hatte fast Angst wegen dieser grundlosen Verwunderung. Er starrte hinüber ans andere Ufer, das weit entfernt war und von dem spärliche Lichter durch den allmählich aufdämmernden Morgen flimmerten. Er sah auch Lichter, die in beständiger Bewegung von Punkt zu Punkt huschten wie Fackeln, die man hin und her trägt. Da erschallten im Innern des Dorfes durchdringende Schreie, die sich wiederholten und fortpflanzten und an Stärke zunahmen. »Der König ist tot!« gellte plötzlich eine Stimme dicht vor dem Fenster, an dem Agathon saß. »Er ist ertrunken!« schrie eine andere, und »im See ertrunken!« eine dritte Stimme. Agathon erhob sich, fiel aber gleich darauf wie ein Stock zu Boden.
    Der angebrochene Morgen sah das Landvolk in hellen Scharen gegen das königliche Schloß ziehen, und man erfuhr, daß die Leiche des Königs erst vor einer Stunde im See aufgefunden worden war. In allen Dörfern der Umgegend läuteten die Glocken. Tausende von Bauern standen am Ufer und vor dem Schloßpark. Viele schrien um Einlaß, und als niemand erschien, erbrachen sie das Tor. Eine furchtbare Erregung hatte die Gemüter ergriffen; mit Sensen, Knütteln, Schaufeln und Hacken organisierten sich ganze Haufen, um nach der Hauptstadt zu ziehen und die Residenz zu stürmen. Am Mittag rückten einige Regimenter Infanterie aus der Stadt, um die Ordnung herzustellen. Ein hünenhaft gebauter Kerl, der sich auf unerklärliche Weise den Wortlaut einer Proklamation verschafft hatte, die des Königs letzte Niederschrift war, lief damit von Dorf zu Dorf, von Weiler zu Weiler, von einem Wirtshaus ins andere, und wurde nicht müde, sie aus der Abschrift immer wieder in einer rührenden und schlichten Weise vorzulesen. Diese Proklamation war das Glänzendste und Bewegteste, was jemals die verzweifelte Seele eines Fürsten geschaffen. Sie ist unbekannt geblieben, und es gab Gründe, ihre Verbreitung nicht zu wünschen. Ihre Sprache war einfach und klar, jedes Wort ein Bekenntnis, eine Klage, eine Anklage. Sie war von einer bitteren Ruhe diktiert, und ein kraftvoll gebändigtes Feuer war in ihr und niemals ward dem Thron ein besserer Dienst geleistet, als durch die Verheimlichung dieses gefährlichen Dokuments, das auf dem Thron entstanden war.
    In der Stadt waren alle Beziehungen der Gewerbe und des Handels gelöst. Kaufhäuser und Schulen, Krämereien und Fabriken waren geschlossen. Trauerfahnen wehten, vierundzwanzig Stunden lang tönten ununterbrochen die Glocken in einem niederdrückenden Konzert. Aufgeregte Menschenmassen füllten Plätze und Straßen und Kirchen; an den Fenstern sah man heulende Weiber; aber auch Männer schämten sich nicht zu weinen. Der König, der seit fünfzehn Jahren sich nicht mehr
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