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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf
Autoren: Jakob Wassermann
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ganze Nachmittag, ohne daß irgend etwas sich ereignete. Man sagte mir, der König liege wie gebrochen auf einem Ruhebett. Am Abend kam eine berittene militärische Abteilung mit einem Oberst. Er hatte ein Dekret, das ihm Zugang zum König verschaffen mußte. Ein Arzt begleitete ihn. Die Abgesandten wurden befreit. Kurze Zeit darauf bestieg der König den Wagen, und in Begleitung der Berittenen wurde er als Gefangener nach Schloß Berg am Starnberger See gebracht. So ist es zugegangen, Agathon. Ich bin nicht mehr, was ich gewesen bin, ich habe mich verloren. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, was ich tun soll, mein Hirn ist wie zerfressen. Daß dieser Mann verbluten soll, werde ich nie verwinden können. Er war zur Größe und zum Licht und zur Schönheit geboren und alle Dämonen der Finsternis haben sich geeinigt, ihn in den Schmutz zu zerren.«
    Agathon starrte in das dunkler werdende Zimmer. Auf einmal trat er einen Schritt zurück, streckte die Hände aus und lispelte verstört. So stand er und seine Gestalt schwankte. Er sah den König mit dem düster flehenden Blick eines gehetzten Tieres vor sich stehen und erkannte ihn, obwohl er ihn noch nie gesehen, außer auf schlechten Bildern. Agathon wollte reden, doch er kam nicht dazu. Jeanette stürzte auf ihn los, packte seine Hände, erhaschte seinen Blick und wie durch ein wunderbares Zeichen verstand sie alles, sah selber hin und ihr war, als würde sie gerufen; mit fieberhafter Eile schlug sie den Mantel um und stürzte fort.
    Agathon faßte sich, seufzte tief auf und ging. Auf der Straße standen überall Gruppen und flüsterten und beratschlagten. Vor den Zeitungsredaktionen warteten Hunderte auf Nachrichten und achteten nicht den Regen, der sie durchnäßte. Viele Tausende drängten sich vor der Residenz und keiner wich nur eine Sekunde lang von seinem mühsam eroberten Platz. Dabei wußten alle, daß der König nicht in der Stadt war. Die Behörde hatte bekannt gemacht, der König habe seines Amtes entkleidet werden müssen, da er bedeutsame und zweifellose Symptome der Geistesstörung gezeigt habe. Aber das Volk glaubte es nicht. Agathon erfuhr bald alles, und ein wilder und phantastischer Entschluß erwachte in ihm. Er ließ sich von Arbeitern den Weg erklären, der zu jenem See hinausführte und machte sich ohne Zögern, obwohl er an diesem Tag noch keinen Bissen Nahrung zu sich genommen hatte, auf die Wanderung. Er dachte nicht daran, die Eisenbahn zu benutzen oder ein anderes Beförderungsmittel. Er hatte das Gefühl, als müßten ihn seine Füße viel schneller dorthintragen, als jede Dampfmaschine es vermocht hätte. Außerhalb der Stadt fragte er noch Handwerksburschen oder Bauern um die Wegrichtung und obgleich die Dunkelheit schon angebrochen war, erschrak er nicht vor der Nachricht, daß es mehr als fünf Stunden zu gehen seien. Das Mühsame des Marsches kam ihm nicht zu Bewußtsein, er wurde nicht müde. Die Glut seiner Sehnsucht war auf eine Tat gerichtet. An der Grenze alles Denkens und der Überlegung angelangt, beherrschten ihn nur noch Gefühle, dumpfe, doch gewaltige Regungen. Er wollte die Bauern führen am Morgen und den König befreien; nie zuvor hatte er zweifelloser die Fähigkeit empfunden, alle, die sich ihm nahten, von einem Trieb entflammen zu lassen.
    Die dunkle Nacht ringsum nährte seine Phantasien. Nirgends war ein Licht. Die Landstraße war nur durch einen schwachen Schein kenntlich. Der Regen plätscherte unaufhörlich herab. Schweigend lagen Felder und Wälder. Oft gelangte er an einen Kreuzweg, aber kühn und unbesorgt schritt er weiter. Er wußte, daß er nicht fehlgehen würde. Stundenlang wanderte er durch einen Wildpark, wo oft ein geheimnisvolles Murren und Rascheln hörbar wurde, aber nichts konnte ihn ablenken oder ängstigen.
    Endlich tauchte in der Tiefe ein oft unterbrochener Kranz von Lichtern auf; es waren die Seeufer. Agathons Augen wurden naß vor Freude. In kurzer Zeit war er im Tal angelangt. Alle Bewohner des Dorfes, das er betrat, waren in Bewegung. In jedem Haus brannte noch Licht. Er betrat die nächste Schenke, die voll war von leidenschaftlich disputierenden Bauern, während Weiber und sogar Kinder auf der Straße standen. Beim Anblick der vielen Menschen, der sich anscheinend zwecklos drehenden und windenden Körper, des Rauches, der aus Pfeifen quoll, der von der Zeit gleichsam gerösteten Bilder und Wände, fühlte Agathon plötzlich die Übermüdung seines Körpers in einer schrecklichen
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