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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
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Tochter, ihre Küche, ihre eifrige Hingabe an das tägliche Leben.
    Die melancholischen Nachklänge hingegen, die Hildas gewandte Finger den Préludes Chopins, ihren Lieblingsstücken, verliehen, erhöhten alle Traurigkeit, die in dem geräumigen, aber einfachen Haus auf dem Hügel über dem tropischen See herrschte, bestehende, erinnerte und voraussehbare.
    »Wären wir anders, wenn wir in Deutschland aufgewachsen wären?« fragte Hilda wehmütig.
    »Ja«, antwortete Virginia schnell. »Und wenn wir in China geboren wären, wären wir noch ganz anders. Assez de chinoiseries, ma chère. «
    »Hast du kein Heimweh?« wandte sich Hilda an Leticia.
    »Wieso? Ich bin nie dort gewesen. Nur du«, sagte Virginia und wies Hilda damit zurecht, obwohl sie Leticia anblickte.
    »Es gibt viel zu tun im Haus«, schloß Leticia.
    Wie alle Landhäuser, die Spanien in der Neuen Welt hinterließ, hatte auch dieses nur ein Stockwerk, seine vier weißgekalkten Seiten waren auf einen Patio ausgerichtet, auf den die Türen des Eßzimmers, des Saals und der Schlafzimmer führten. Aus dem Patio fiel Licht in die Wohnräume, die Außenwände waren blind, eine Schutzmaßnahme und darüber hinaus ein Gebot des Schamgefühls.
    »Wir leben hier, als bedrohten uns Indios, englische Piraten oder schwarze Rebellen«, sagte einmal die junge Virginia mit einem belustigten Lächeln. »Aux armes!«
    Für die Rücksicht auf das Schamgefühl waren jedoch alle dankbar. Die Saisonarbeiter, die zur Kaffee-Ernte hergeholt wurden, waren neugierig, dreist, manchmal aufsässig und respektlos. Virginia verscheuchte sie mit spanischen Schimpfworten und lateinischen Zitaten, als wäre das junge Mädchen mit den schwarzen Augen, der weißen Haut und den schmalen Lippen eine der Hexen, die, wie es hieß, am anderen Seeufer hausten.
    Wollte man ins Haus des Patrons, mußte man durch die große Tür eintreten. Die nach hinten liegende Küche ging zu den Gehegen, Pferdeställen, Vorratskammern und aufs freie Feld, zu den Mühlen, den Rohrleitungen und dem Hof, wo die Ernte zum Schälen, Vergären, Waschen und Trocknen aufbereitet wurde.
    Die Hazienda hatte von ihrem Gründer Felipe Kelsen den Namen La Peregrina – »Die Fremde« – erhalten, aus Verehrung für seine Frau, die unbezwingliche, verstümmelte Cosima. Es gab fünf Reitpferde, vierzehn Maultiere und fünfzig Rinder, doch nichts davon interessierte die kleine Laura. Nie ließ sie sich bei den Arbeiten blicken, die ihr Großvater mit strenger Hand leitete. Er beklagte sich zwar nicht, wies jedoch immerzu darauf hin, wie teuer die Arbeitskräfte doch seien, angesichts der Verderblichkeit des Kaffees und der Schwankungen, denen seine Vermarktung unterliege. Don Felipe sah sich zu ständigen Kontrollen gezwungen, ob die Bäume beschnitten und ihnen der für ihr Wachstum unentbehrliche Schatten gesichert war, ob die Kaffeesträucher ausgelichtet und von den Schößlingen getrennt wurden, der Boden gesäubert und die Trockenplätze beaufsichtigt.
    »Kaffee ist nicht wie Zucker, dieses wilde Rohr, das überall wächst, Kaffee verlangt Disziplin«, erklärte der Patron Don Felipe ohne Unterlaß, während er über Mühlen, Schuppen, Ställe und die berühmten Trockenplätzen wachte; sein Tagesablauf teilte sich in die gründliche Feldaufsicht und die nicht minder gründliche Kontrolle der Rechnungen.
    Laura hatte für das alles keinen Blick. Ihr gefielen die sich über die Hügel ausdehnenden Kaffeeplantagen, der dahinterliegende Urwald und der See, die an einer offenbar verbotenen Stelle zusammentrafen. Die Kleine kletterte auf das flache Dach, um in der Ferne den »quecksilbrigen Spiegel« des Sees zu erspähen, wie ihn ihre Tante, die belesene Virginia, nannte, und sie fragte sich nicht, warum das Schönste an diesem Ort gleichzeitig das am wenigsten Nahe war, das, was sich ihrem Zugriff am meisten entzog. Sie streckte die Hand aus, als wolle sie es berühren, und gab ihrem Verlangen alle Macht der Welt. Alle Triumphe ihrer Kindheit überließ sie der Phantasie. Den See. Einen Vers.
    Aus dem Salon schwebten die melancholischen Töne eines Préludes empor und stimmten Laura traurig, zugleich war sie aber zufrieden, daß sie dieses Gefühl mit ihrer Tante teilte, einer so schönen und so einsamen Frau, die zehn hochmusikalische Finger hatte.
    Die Arbeiter hatten auf Anweisung des Großvaters, des Patrons Don Felipe Kelsen, die Hauswände mit einer Mischung aus Kalk und Agavensaft gestrichen, die die Mauern so glatt
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