Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
Vom Netzwerk:
sagten die Leute in Veracruz.
    Don Felipe war nicht davor zurückgeschreckt, seiner jungen Braut die Einkaufsreise nach Mexico-Stadt vorzuwerfen. »Wärst du nach New Orleans gefahren, wäre dir das nicht passiert.«
    Bereits am ersten Tag ihrer Ehe begriff Côsima, daß ihr Mann Mexikaner werden wollte. Sie war das letzte Zugeständnis, das Philipp Kelsen seinem alten Vaterland machte. Côsima kam mit ihrer Reise dem Willen ihres Mannes zuvor, für immer von hier und nie wieder von drüben zu sein – darum büßte sie vier Finger ein: »Ich möchte unseren Hausrat lieber in der mexikanischen Hauptstadt kaufen. Wir sind schließlich Mexikaner, oder?«
    Wie gefährlich Finger waren, stellte sich die kleine Laura vor, wenn sie aus ihren Alpträumen erwachte, in denen eine einsame Hand über den Boden lief, an den Wänden hochkletterte und sich aufs Kopfkissen fallen ließ, direkt neben ihr Gesicht. Sie erwachte schreiend, und neben ihrem Gesicht kroch eine Spinne. Laura wagte es nicht, sie zu erschlagen, das wäre für sie das gleiche gewesen, wie ihrer im Schaukelstuhl träumenden Großmutter die Finger noch einmal abzuhacken.
    »Mama, ich möchte einen weißen Baldachin über meinem Bett.«
    »Wir halten das Haus peinlich sauber. Hier kommt kein Stäubchen herein.«
    »Aber ganz häßliche Träume.«
    Leticia lachte und kniete nieder, um ihre liebe Kleine zärtlich zu umarmen, die schon den scharfsinnigen Mutterwitz aller Familienmitglieder zeigte, die schöne, melancholische Großmutter Côsima ausgenommen.
    Den Schuften, die ihm vorhielten, seine Frau sei ihm gegenüber kühl und abweisend, antwortete Felipe mit drei wohlgeratenen Töchtern, von denen die eine hübscher, intelligenter und häuslicher als die andere war. »Sechs Finger reichen einer Frau, um einen Mann zu lieben«, prahlte er eines Nachts in der Kneipe, was er sofort bereute, und zwar gründlicher als je zuvor oder danach etwas in seinem Leben. Er war müde und leicht betrunken. Er war Herr einer Kaffeeplantage und wollte sich entspannen. Nie wieder sagte er, was er in jener Nacht gesagt hatte. Er betete, daß alle, die ihn gehört hatten, bald starben oder für immer verschwanden, was das gleiche für ihn war.
    »Partir, c'est mourir un peu, jeder Abschied ist ein kleiner Tod«, sagte Felipe immer wieder, ein Sprichwort seiner französischen Mutter. Damals hatte Felipe noch Philipp geheißen, sein Vater war Heine Kelsen und seine Mutter Lätitia Lassalle. Das Europa, das Bonaparte hinterlassen hatte, entstand überall neu und brach gleich wieder auseinander, weil die Industrie wuchs und die Zahl der Handwerker abnahm, die jetzt fern von Zuhause und ihren Feldern in den Fabriken arbeiteten, nicht wie früher, als Heim und Arbeit stets vereint waren. Man sprach von Freiheit, und Tyrannen herrschten. Die Nation öffnete sich und starb im Kugelregen absolutistischer Erschießungskommandos. Niemand wußte, ob sein Fuß ein neues Saatfeld betrat oder über alte Trümmerstätten lief, wie Alfred de Musset geschrieben hatte, der wunderbare romantische Dichter, der durch seine Bücher Brautpaare zusammenführte, indem er den Bräutigam begeisterte, die Liebe der Braut entflammte und allen zu Herzen ging. Schwärmerische Jungen, ätherische Mädchen: Der junge Philipp Kelsen – blaue Augen, griechisches Profil und bärtiges Adlergesicht, mit Pelerinenmantel, Zylinderhut und Spazierstock mit Elfenbeinknauf – wollte begreifen, in welcher Welt er lebte, und glaubte schon, alles zu verstehen, als er sich bei einer Großkundgebung in Düsseldorf in der beeindruckenden Gestalt des jungen sozialistischen Tribunen Ferdinand von Lassalle wiedererkannte, sich wiedererkannte und auf verwirrende Weise in sich selbst verliebte.
    Philipp Kelsen überkam mit seinen vierundzwanzig Jahren eine Vorahnung, als er diesen Mann reden hörte und betrachtete, der beinahe so alt war wie er selbst, jedoch sein Mentor wurde, der den Familiennamen von Philipps Mutter trug wie diese den
    Vornamen der Mutter Napoleons: Lätitia. Die günstigen Vorzeichen rissen den jungen Deutschen mit sich fort, der Lassalle zuhörte und sich an die Worte Mussets erinnerte: »Von den höchsten geistigen Sphären bis zu den undurchdringlichsten Mysterien der Materie und der Form sind diese Seele und dieser Körper mit dir verschwistert.«
    »Lassalle, mein Bruder«, sagte Philipp lautlos zu seinem Helden und vergaß darüber unbekümmert, freiwillig und unfreiwillig zugleich, die grundlegenden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher