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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
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Nationalstolz und die Abenteuerlust, die ihn vom Rhein an den Golf von Mexiko gebracht hatte. Nur daß diese Eigenschaften nun nicht mehr deutsch, sondern mexikanisch sein sollten. Der alte Heine Kelsen in Düsseldorf hatte den Entschluß seines rebellischen Sohns begrüßt, ihn mit einem größeren Geldbetrag ausgestattet und in Hamburg auf ein Schiff gesetzt, das in die Neue Welt auslief. Philipp legte einen dreijährigen Zwischenaufenthalt in New Orleans ein, wo er lustlos in einer Tabakfabrik arbeitete; der nordamerikanische Rassismus, der so fanatisch in den brennenden Trümmern der Südstaatenkonföderation wütete, war ihm zuwider. Er fuhr weiter nach Veracruz, erkundete die Küste von Tuxpan in der grünen Huasteca-Region bis zum Bezirk Los Tuxtlas, den Hunderte Vögel überflogen.
    »Ist der Bauch voll, freut sich das Herz«, sagte ihm die erste Frau, mit der er in Tuxpan schlief, eine Mulattin, die Bett und Küche die gleiche Sinnlichkeit verlieh, sie befriedigte den gierigen Mund des jungen deutschen Verführers abwechselnd mit zwei violetten Brustwarzen und einer ungeheuren Menge von Maisgerichten, Bocoles, Pemoles und Tamales mit Spanferkelfleisch. Und der verwöhnte Philipp Kelsen fand auch in Santiago Tuxtla seine Mulattin und seine Mahlzeiten. Die Frau hieß Santiaga wie ihre Stadt, und die Gerichte, die sie für den jungen, sinnlichen und neuigkeitssüchtigen Deutschen bereithielt, entstammten sämtlich der karibischen Küche – Jukka, Pfeffertopf und Mogo-Mogo aus Mehlbananen. Doch mehr noch als durch sexuelle und kulinarische Schlemmereien wurde Philipp von der Schönheit Catemacos verführt, das nur einen Katzensprung von Los Tuxtlas entfernt war: ein See, der in der Schweiz oder Deutschland hätte liegen können, von Bergen und dichter Vegetation umgeben, spiegelglatt, doch vom Rauschen unsichtbarer Kaskaden, vorüberfliegenden Vögeln und Gruppen kurzschwänziger Makaken belebt.
    Philipp Kelsen stand auf einem Hügel über dem quecksilbrigen See, und mit einer Geste, die alles miteinander vereinte, seine Jugend und seine Zukunft, seinen romantischen Geist und seinen ererbten Geschäftssinn, seinen Idealismus und seinen Pragmatismus, seine Sinnlichkeit und seine Askese, sagte er: »Hier bleibe ich. Das ist mein Vaterland.«
    Nur andeutungsweise und indirekt erfuhr die kleine Laura von der Geschichte ihres aufrechten, disziplinierten, schönen deutschen Großvaters, der ausschließlich spanisch sprach, wenngleich, wer weiß, ob er weiter auf deutsch dachte und in welcher Sprache er wohl träumte. Für die Kleine war alles gerade erst geschehen, nichts war lange her, und mehr als alles andere markierten ihre Geburtstage das Verstreichen der Zeit. Da lief sie, damit niemand vergaß, sie zu beschenken, noch im Nachthemd frühmorgens auf den Hof hinaus, hüpfte drollig umher und sang:
    »Am zwölften Mai schlüpfte die Jungfrau aus dem Ei schneeweiße Windeln um den Po und im Paletot…«
    Alle im Haus kannten dieses Ritual, und in den Tagen vor ihrem Geburtstag taten sie so, als hätten sie ihn vergessen. Wenn Laura dahinterkam, daß sie doch Bescheid wußten, behielt sie es für sich. Alle taten überrascht, und das war schöner, vor allem an diesem zwölften Mai im fünften Jahr des neuen Jahrhunderts, als Laura sieben wurde und der Großvater ihr ein ganz ungewöhnliches Geschenk machte: eine chinesische Puppe mit Kopf, Händen und Füßen aus Porzellan, deren wattiertes Körperchen in einer Mandarintracht aus roter Seide mit schwarzen Säumen und goldgestickten Drachen steckte. Das exotische Kostüm minderte nicht die Freude des beschenkten Mädchens, und seine Freude nicht die Liebe, die es sofort für die winzigen, in weißen Seidenstrümpfen und schwarzen Samtpantoffeln steckenden Füßchen empfand, für das lächelnde, stupsnasige Gesichtchen mit den orientalischen Augen und den hohen Brauen, die nicht weit von der seidenen Stirnlocke aufgemalt waren. Die zierlichen Händchen jedoch waren der zarteste Teil der Puppe, und als Laura das schönste Geschenk ihrer ganzen Kindheit erhielt, nahm sie eine dieser Hände und streckte sie der klavierspielenden Tante Hilda, der schriftstellernden Tante Virginia, der kochbegeisterten Mutti Leticia, dem kaffeeanbauenden Großvater Felipe und der invaliden Großmutter Côsima zur Begrüßung hin. Die Großmutter verbarg unwillkürlich ihre verstümmelte Rechte in ihren Schultertüchern und reichte ihrer kleinen Enkelin ungeschickt die linke Hand.
    »Hast
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