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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
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sich die Elenden einquartierten, die keinen anderen Unterschlupf hatten, die Junkies, die sich in den Ecken Lust und Dreck spritzten, sie alle knipste ich mit meiner Kamera, wie ein Provokateur, auf dem Weg durch eine blinde Galerie, ich der Unsichtbare, nicht sie, ich, der ich plötzlich die Zärtlichkeit, Wehmut und Zuneigung einer Frau wiedergefunden hatte, die ich zwar nie kennengelernt hatte, die mein Leben jedoch mit all jenen Formen der Erinnerung füllte, die sie bewußt und unbewußt ausmachten, mit ihren Vorzügen und Gefahren; einer Erinnerung, die eine Vertreibung aus dem eigenen Heim und gleichzeitig die Rückkehr ins mütterliche Zuhause war, ein tollkühnes Treffen mit dem Feind und das Heimweh nach der Höhle des Ursprungs.
    Ein Mann mit einer brennenden Fackel rannte schreiend durch die Korridore des verlassenen Hauses und zündete alles Brennbare an. Ich bekam einen Schlag ins Genick und stürzte, im Blick einen einsamen, auf dem Kopf stehenden Wolkenkratzer, darunter einen kalten und trüben Himmel. Ich berührte das glühende Blut des Sommers, der noch nicht kam, trank die Tränen, die nichts ändern an der dunklen Farbe der Haut, vernahm die Geräusche der Nacht, doch nicht ihr ersehntes Schweigen; ich sah Kinder in den Ruinen spielen, betrachtete die ruhende Stadt, die sich schamlos abhorchen ließ. Ich fühlte mich, meinen ganzen Körper, bedrängt durch eine Katastrophe aus Ziegeln und Rauch, das Brandopfer der Stadt, die Verheißung unbewohnbarer Städte, ein Heim für niemanden in niemandes Stadt.
    Stürzend vermochte ich mich noch zu fragen, ob sich das Leben einer toten Frau genau so erleben läßt, wie sie es gelebt hat, ob man die Geheimnisse ihres Gedächtnisses entdecken, sich wie sie selbst daran erinnern kann.
    Ich habe sie gesehen, ich werde mich an sie erinnern.
    An Laura Dïaz.

II. Catemaco: 1905
     
    Manchmal läßt sich die Erinnerung wie mit Händen greifen. Die am häufigsten erzählte Familiensage hatte mit dem Mut von Großmutter Cosima Kelsen zu tun, als sie in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Mexico-Stadt fuhr, um die Möbel und die Ausstattung für ihr Haus in Veracruz zu kaufen, und als auf der Rückfahrt die Postkutsche, in der sie reiste, von Banditen angehalten wurde, die noch die malerische Volkstracht der Chinacos trugen – breitkrempiger runder Hut, kurze Wildlederjacke, Hosen mit weiten Beinen, Kurzschaftstiefel und Sonorenser Sporen. Alles mit Knöpfen aus Altsilber besetzt.
    Cosima Kelsen schilderte lieber diese Art Einzelheiten, als über das eigentliche Ereignis zu berichten. Was die Darstellung der kleinen Geschichte noch anschaulicher werden ließ, noch unglaublicher und außerordentlicher, so altvertraut sie uns auch vorkam, wurde sie doch von etlichen Stimmen erzählt und ging – man lasse die Redundanz gelten – von Hand zu Hand, denn um Hände (oder vielmehr um Finger) ging es in ihr.
    Die Postkutsche wurde an jener seltsamen Stelle angehalten, die El Cofre de Perote heißt, wo der Reisende nicht hinauf in den Dunst gelangt, sondern aus klarer Berghöhe hinab in einen Nebelsee steigt. Die in Rauch gehüllte Gruppe der Chinacos erschien unter Pferdegewieher und Pistolendonner. »Geld oder Leben« war eigentlich das Losungswort, diese Banditen aber waren origineller und verlangten: »Leben oder Leben«, als verstünden sie scharfsinnig den stolzen Seelenadel und die unbeugsame Würde, die die junge Dona Cosima ihnen von Beginn an zeigte.
    Nicht einen Blick gönnte sie ihnen.
    Der Anführer der Bande, ein früherer Hauptmann des geschlagenen kaiserlichen Heeres Maximilians, hatte lange genug mit dem Hof von Chapultepec zu tun gehabt, um auf soziale Unterschiede zu achten. Zwar war er in der Gegend von Veracruz wegen seiner sexuellen Gelüste berühmt – man nannte ihn den »Protz von Papantla« –, dennoch wußte er treffsicher zwischen einer Señora und einem leichten Mädchen zu unterscheiden. Den ehemaligen Kavallerieoffizier hatte die Niederlage des Kaisers, die schließlich zur Erschießung von Maximilian, Miramön und Mejia führte, zum Banditentum gezwungen. »Die drei M's, mierda!« rief der abergläubische mexikanische Condottiere manchmal. Der Respekt, den er vornehmen Damen erwies, stellte sich unwillkürlich bei ihm ein, der Räuber wußte genau, was er der jungvermählten Dona Cosima zu sagen hatte, die zuerst seine wie Kupfersulfat glänzenden Augen sah und dann die rechte Hand ostentativ ans Kutschenfenster
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