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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
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entschuldige mein Lachen. Es war ein gutes, ein unbezähmbares, anerkennendes und vielleicht wehmütiges Lachen. Worüber? Ich vermute, über die verlorene Unschuld, über den Glauben an die Industrie, daß sich Fortschritt, Glück und Geschichte dank der industriellen Entwicklung die Hand reichen. All diese Triumphe hat Rivera in Detroit nach Gebühr besungen. Wie die namenlosen Baumeister, Maler und Bildhauer des Mittelalters, die die großen Kathedralen errichteten und ausschmückten, um den einzigen, unwandelbaren, unbezweifelbaren Gott zu loben, kam Rivera nach Detroit; voller Glauben wie einstmals die Pilger nach Canterbury und Compostela. Ich lachte auch deshalb, weil dieses Wandbild wie die bunte Postkarte einer schwarzweißen, beweglichen Szene aus Chaplins Film »Moderne Zeiten« war. Die gleichen spiegelblank polierten Maschinen, diese perfekten und unerbittlichen Räderwerke, ihre Zuverlässigkeit, die der Marxist Rivera als vertrauenswürdiges Zeichen des Fortschritts ansah, die Chaplin jedoch für gefräßige Rachen hielt, Maschinen, die den Arbeiter wie eiserne Mägen verschlangen, hinunterschluckten und schließlich als ein Stück Scheiße wieder ausspuckten.
    Rivera nicht. Das hier war die industrielle Idylle, das Abbild der unermeßlich reichen Stadt, wie Rivera sie in den dreißiger Jahren kennengelernt hatte, als Detroit einer halben Million Menschen Arbeit und ein anständiges Leben bot.
    Wie sah der mexikanische Maler diese Arbeiter?
    Etwas ließ mich innehalten vor diesem Bild emsiger Betriebsamkeit in Räumen voller menschlicher Gestalten, die glänzende, schlangenförmige Maschinen bedienten, endlos wie die Eingeweide eines prähistorischen Tiers, das lange braucht, bevor es kriechend in die heutige Zeit gelangt. Ich brauchte lange, bis ich den Grund meines Innehaltens begriff. Erregt vom Gefühl schöpferischer Entdeckung, wie man es bei Fernseharbeiten sonst kaum hat, kam ich mir wie der Szenerie enthoben vor. Da stand ich also vor diesem Wandbild Diego Riveras in Detroit, weil ich von meinem Publikum ebenso abhing wie womöglich auch Rivera von seinen Förderern. Aber er machte sich lustig über sie, setzte ihnen rote Fahnen und sowjetische Führer vor die Nase, vor ihre kapitalistischen Bollwerke. Ich dagegen verdiene keine Zensur und keinen Skandal: Entweder habe ich Erfolg, oder ich gehe unter, nichts weiter. Klick – und der Idiotenkasten ist aus. Da wird nichts mehr gefördert oder gepflegt, und es ist allen scheißegal. Wer erinnert sich schon noch an die erste Vorabendserie, die er in seinem Leben gesehen hat – oder, was das gleiche ist, an die letzte?
    Aber da war noch etwas Seltsames an diesem so bekannten Wandgemälde, das mir keine Ruhe ließ und mir nicht erlaubte, ungehemmt zu filmen. Ich versuchte, ihm auf die Schliche zu kommen, gab vor, den besten Aufnahmewinkel, das beste Licht zu suchen. Techniker sind geduldig. Sie respektierten meine Bemühungen. Bis ich begriff. Ich hatte hingesehen, ohne genau zu beobachten. Alle von Diego gemalten nordamerikanischen Arbeiter drehten dem Betrachter den Rücken zu. Der Künstler hatte nichts als arbeitende Rücken gemalt, die wenigen weißen Gesichter trugen gläserne Schutzbrillen, um sich vor dem Funkenflug beim Schweißen zu schützen. Die Gesichter der Nordamerikaner waren anonym. Maskiert. Rivera hatte sie gesehen, wie sie uns Mexikaner sehen. Von hinten. Anonym. Gesichtslos. Dabei lachte er nicht, war nicht Charlie Chaplin; er war der Mexikaner, der wagte, ihnen zu sagen, ihr habt kein Gesicht. Er war der Marxist, der den Weißen sagte, eure Arbeit trägt nicht euren Namen und nicht euer Gesicht, eure Arbeit gehört euch nicht.
    Und wer sah den Betrachter an?
    Die Schwarzen. Sie hatten Gesichter. Sie hatten sie im Jahr 1932, als Rivera zum Malen herkam und Frida ins Henry-Ford-Krankenhaus eingeliefert wurde und der große Skandal eine Heilige Familie war, die Diego unübersehbar in das Wandgemälde einbezog, um zu provozieren, obwohl Frida schwanger war und das Kind verlor und anstelle des Kindes eine Stoffpuppe zur Welt brachte, an deren Taufe Papageien, Affen, Tauben, eine Katze und ein Hirsch teilnahmen. Machte sich Rivera über die Gringos lustig, oder hatte er Angst vor ihnen und malte sie deshalb nicht mit dem Gesicht der Welt zugewandt?
    Der Künstler weiß nie, was der Betrachter weiß. Wir kennen die Zukunft, nicht nur dieses Wandbild Riveras; wir kennen die Gesichter der Schwarzen, die er anzusehen wagte, die es
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