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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz
Autoren: Carlos Fuentes
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wagten, uns anzusehen, und die ihre Fäuste nicht nur hatten, um Autos für Ford zu bauen. Unbewußt, aus reiner Intuition, malte Rivera im Jahr 1932 die Schwarzen, die am 30. Juli 1967 – dieses Datum ist tief ins Herz Detroits gegraben – die Stadt in Brand steckten, sie plünderten, mit Schüssen durchlöcherten, sie einäscherten und dem Leichenschauhaus dreiundvierzig Tote lieferten. Waren sie tatsächlich die einzigen, die auf dem Wandbild ihr Gesicht zeigten, diese dreiundvierzig zukünftigen Toten, die Diego Rivera 1932 malte, diese Schwarzen, die 1967 umkamen, zehn Jahre nach dem Tod des Malers, fünfundvierzig Jahre, nachdem er sie gemalt hatte?
    Man kann ein Wandbild nur scheinbar mit einem einzigen Blick erfassen. Seine Geheimnisse erfordern eine lange, geduldige Betrachtung, einen Blick, der sich nicht auf den Raum des Gemäldes beschränkt, sondern all das ergründet, was darüber hinausweist, jenen unausweichlichen Zusammenhang, der den Blick der Gestalten und des Betrachters zeitlos macht. Es geschah etwas Erstaunliches: Ich mußte meinen Blick über die Grenzen des Wandbilds gleiten lassen, um gleich darauf mit einem harten Schnitt zu ihm zurückzukehren, wie eine Filmkamera, die von der Totalen blitzschnell in die brutale Nahaufnahme schaltet, zum Detail, zu den Gesichtern der Arbeiterinnen, vom kurzen Haar und den Overalls vermännlicht, dennoch ganz zweifellos Frauengestalten. Eine von ihnen war Frida. Doch dann ihre Gefährtin, nicht Frida, die andere Frau des Gemäldes: das Adlerprofil, das zu ihrer großen Gestalt paßte, ihr melancholischer Blick aus den umschatteten Augenhöhlen, die schmalen Lippen, die gerade durch ihre Feinheit sinnlich wirkten, als verkündete ihre Flüchtigkeit eine strenge, selbstgenügsame, den Lippenstift verschmähende Überlegenheit, so maßvoll wie unerschöpflich, überreich an Geheimnissen beim Reden, Essen, Lieben.
    Ich betrachtete diese fast goldenen, mestizischen, halb europäischen und halb mexikanischen Augen, ich betrachtete sie, wie ich sie so oft in einem Paß betrachtet hatte, der vergessen in einer Schublade lag, genauso weltentrückt wie das Reisedokument selbst. Ich sah sie genau wie auf den Fotos, die überall in der Wohnung meines jungen, im Oktober 1968 ermordeten Vaters zur Schau gestellt, verstreut, beiseite gelegt waren. Jene Augen, die in der direkten Erinnerung nicht mehr existierten, die mir mein Gedächtnis dennoch über dreißig Jahre in der Seele bewahrt hatte, bis in mein bald vierunddreißigstes Jahr, da unser zwanzigstes Jahrhundert seinem Tod entgegengeht. Zitternd betrachtete ich diese Augen, mit einem beinahe heiligen Schrecken, gewiß so lange, daß meine Arbeitskollegen innehielten und näher kamen, fehlte mir etwas?
    Fehlte mir etwas? Erinnerte ich mich an etwas? Ich betrachtete das Gesicht jener schönen, fremdartigen, in Arbeiterkleidung steckenden Frau, und alle Formen der Erinnerung – des Gedächtnisses, all jener besonderen Augenblicke des Lebens – strömten in meinem Kopf wie ein entfesselter Ozean zusammen, dessen Wellen stets die gleichen und nie dieselben sind: Soeben hatte ich das Gesicht von Laura Dïaz erblickt. Jenes Gesicht, das aus der Überfülle des Wandgemäldes herausstach, war das einer einzigen Frau, und sie hieß Laura Dïaz.
    Terry Hopkins, der Kameramann, ein alter – wenn auch junger –Freund, leuchtete die bemalte Wand ein letztes Mal aus, gab ihr mit einem Filter blaue Farbtöne, als handelte es sich, möglicherweise, um einen Abschied. Terry ist ein Dichter, und seine Beleuchtung verschmolz mit der des Sonnenuntergangs an jenem Februartag des Jahres 1999, den wir gerade erlebten.
    »Bist du verrückt?« sagte er. »Du willst zu Fuß ms Hotel zurück?«
    Ich weiß nicht, was für einen Blick ich ihm zuwarf, doch er sagte nichts weiter. Wir trennten uns. Sie luden das schwere (und teure) Aufnahmegerät ein und fuhren mit ihrem Kleintransporter davon.
    Ich blieb allein mit Detroit, der auf Knien liegenden Stadt. Langsam machte ich mich auf den Weg.
    Hemmungslos, mit dem Ungestüm jugendlicher Selbstbefriedigung, zielte ich mit der Kamera in alle Richtungen, knipste die schwarzen Prostituierten und die jungen schwarzen Streifenpolizistinnen, die schwarzen Kinder mit den durchlöcherten Wollmützen und den kaum Wärme spendenden Parkas, die Alten, die sich an eine zum Straßenofen gemachte Mülltonne drückten, die verwahrlosten Häuser – ich spürte, wie ich in alles eindrang. Die Orte, in denen
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