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Die irische Signora

Die irische Signora

Titel: Die irische Signora
Autoren: Maeve Binchy
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Lateinlehrer würden sie dort mit Kußhand nehmen. Es gab ja viele Berufe, für die man auch heute noch Lateinkenntnisse benötigte. Er konnte bei der Schulbehörde Einspruch erheben und seine Verdienste um die Schule aufzählen – seine vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten, um das gesellschaftliche Ansehen der Schule zu fördern; seine berufsorientierenden Veranstaltungen, in denen Referenten mit den Schülern diskutierten und ihnen praktische Tips für das Berufsleben gaben; sein Ökologieunterricht mit Anschauungsbeispielen aus dem Naturgarten.
    Dabei konnte er zwischen den Zeilen durchblicken lassen, daß Tony O’Brien ein schädliches Element war. Allein die Tatsache, daß er auf dem Schulgelände gewaltsam gegen einen ehemaligen Schüler vorgegangen war, hatte eine verheerende Signalwirkung auf diejenigen, denen er eigentlich ein Beispiel sein sollte. Oder sollte Aidan einen anonymen Brief an verschiedene Mitglieder der Schulbehörde schicken, zum Beispiel an den sympathischen Priester mit dem offenen Gesicht und die ziemlich streng wirkende Nonne, die von Tony O’Briens lockeren Moralvorstellungen womöglich keine Ahnung hatten? Vielleicht sollte er mit ein paar Eltern eine Bürgerinitiative gründen? Es gab so viele Möglichkeiten.
    Oder sollte er doch Mr. Walshs Worte beherzigen und sich ein Leben außerhalb der Schule aufbauen? Er konnte das Eßzimmer in ein letztes Bollwerk gegen die Enttäuschungen seines Lebens verwandeln. Aidans Kopf fühlte sich so schwer an, als hätte ihm jemand ein Bleigewicht um den Hals gehängt. Schließlich hatte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.
    Er verwandte viel Sorgfalt auf seine Rasur, denn er wollte nicht mit kleinen Heftpflastern im Gesicht in der Schule erscheinen. Währenddessen schaute er sich im Badezimmer um, als sähe er es zum erstenmal. Auf jedem freien Fleckchen Wand hingen Kunstdrucke von Venedig, Reproduktionen von Turner-Gemälden, die Aidan bei einem Besuch in der Tate Gallery gekauft hatte. Als die Kinder klein gewesen waren, hatten sie immer vom »Venedig-Zimmer« anstatt vom Badezimmer gesprochen. Heute sahen sie die Bilder wahrscheinlich gar nicht mehr; sie waren eins geworden mit der Tapete, die sie fast völlig verdeckten.
    Während Aidan mit dem Finger über die Bilder strich, fragte er sich, ob er jemals wieder an diese Orte kommen würde. Als junger Mann war er zweimal dort gewesen. Auch die Flitterwochen hatten sie in Italien verbracht, wo er Nell sein Venedig, sein Rom, sein Florenz und sein Siena gezeigt hatte. Es war eine wundervolle Zeit gewesen, doch sie waren nie wieder hingefahren. Als die Mädchen noch klein gewesen waren, hatte es am Geld oder an der Zeit gefehlt, und später … tja … wer wäre dann noch mitgefahren? Und wenn er allein gereist wäre, hätte er damit ein Zeichen gesetzt. Trotzdem würde er künftig vielleicht einmal Zeichen setzen müssen, und er war doch noch nicht so abgestumpft, daß ihn die Schönheit Italiens nicht mehr reizen konnte, oder?
    Irgendwann hatte es sich bei ihnen eingebürgert, daß beim Frühstück nicht viel gesprochen wurde. Und als Ritual funktionierte es reibungslos. Um acht Uhr war der Kaffee fertig, und zu den Nachrichten wurde das Radio eingeschaltet. Jeder bediente sich selbst. Eine farbenfrohe italienische Schale mit Pampelmusen prangte auf dem Tisch, der Brotkorb war frisch gefüllt, und der Toaster stand auf einem Tablett, auf dem der Trevi-Brunnen abgebildet war. Das hatte Nell ihm zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Um zwanzig nach acht verließen Aidan und die Mädchen das Haus, nachdem sie ihre Teller und Tassen in die Geschirrspülmaschine gestellt hatten, damit Nell weniger Arbeit hatte.
    Seine Frau konnte sich nicht beklagen, fand Aidan. Was er ihr versprochen hatte, hatte er auch gehalten. Zwar wohnten sie nicht in einem eleganten Haus, aber es war mit Heizkörpern und Haushaltsgeräten ausgestattet, und er bezahlte dafür, daß dreimal jährlich die Fenster geputzt wurden, alle zwei Jahre der Teppich gereinigt und alle drei Jahre die Hausfassade gestrichen wurde.
    Laß doch dieses alberne Spießerdenken, ermahnte sich Aidan, setzte ein Lächeln auf und bereitete sich auf seinen Aufbruch vor.
    »Hattest du gestern einen schönen Abend, Grania?« fragte er.
    »Ja, war schon okay.« Von der Atmosphäre vager Vertraulichkeit, die sich am Vorabend entwickelt hatte, war nichts mehr zu spüren. Grania verlor kein Wort darüber, ob ihr Bekannter es ernst meinte oder
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