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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen. Auf der Suche nach etwas. Ich muss ruhig zu verstehen versuchen, wonach. Nach Sinngebungen. Nach Sinngebungen im menschlichen Leben. Das mag albern, ja schwülstig klingen, aber was tun, wenn wir mit der Sinnlosigkeit unseres Daseins konfrontiert werden?
    Denn der Krieg ist schließlich etwas Ernstes, ist blutigernster Widersinn. Tausende wurden ermordet. Haben einander umgebracht. Sich des Sinns beraubt. In der Nacht, als ich meinen Absprung auf die Insel machen wollte, waren Sumgait, Karabach, Baku die Orte der Katastrophe. Seither ist die Liste gewachsen, wie eine Krebsgeschwulst. Die Familie, das Heim, die Welt eines einzelnen Menschen, sein Fleiß und seine Freude wurden des Sinns beraubt, der Tod hält seine Ernte. Man muss der Wahrheit ins Auge sehen: muss den Armen in die Augen sehen, muss den verzweifelten Flüchtlingen in die Augen sehen und in die erkalteten Augen der Ermordeten.
Das menschliche Leben ist keinen Heller wert
. Echten Wert besitzt nur Macht. Und Geld. Und Rohstoff. Und Rüstung.
    Echten Wert besitzt seltsamerweise alles, was das Leben verunstaltet, entstellt, durcheinanderbringt, zerstört, daran hindert, sich zu erheben, was die Steine daran hindert, sich zu einem soliden Mauerwerk zu verbinden, die Schößlinge, eine kraftvolle Pflanze zu werden. Hass hat seine eigenen Gesetze. Wir leben wieder an einem Zeitenende.
    Ich glaube nicht an die »Menschenrechte«, aber ich glaube daran, dass die Menschlichkeit den Menschen ausmacht. Ein Ermordeter oder Entrechteter, ein seines Geschicks, seiner Bestimmung beraubter Mensch ist der Triumph von Widersinn und Tod. In wessen Namen wurde nicht Blut vergossen! Selbst im Namen des Herrn. Um einander stärker zu hassen rufen die Entrechteten den an, der die Menschen zur Menschheit sammelt. Mit Erfolg. Sie träufeln Hass in die Seele, pechschwarzen Hass. In die Seele, die dazu verdammt ist, Gefäß zu sein – wenn nicht der Liebe, so des Hasses. Wenn nicht des Sinns, so des Widersinns.
    Was habe ich damit zu tun?
    Vor zwei Tagen sah ich einen Mann, der, eine kurze Regenpause nutzend, eine lange Stange mit einem neuen Starenkasten obenauf an der Wand eines Hofschuppens annagelte. Als er fertig war, schlug er mehrmals mit dem Hammer leicht auf die Köpfe der fest ins Holz gehauenen Nägel und strich befriedigt mit der flachen Hand über die Stange, sich gleichsam vergewissernd, etwas Gutes vollbracht zu haben. Ich war unterwegs zu einer Gaststätte am anderen Ende der Stadt und fror entsetzlich, bestimmt des Hungers wegen, weshalb ich sofort dachte, die Stare werden die Gastfreundschaft dieses Mannes wohl kaum annehmen, die Sommer hier sind doch gar zu kurz und nasskalt. Außerdem war ja schon August und der Nachwuchs längst großgezogen, Zeit für den Abflug, nicht für die Suche nach einem Nistplatz.
    Ich blieb stehen und fragte den Mann, ob Stare bis hierherauf kämen.
    »Nein, nie«, antwortete er ruhig, steckte seinen Hammer ein und ging, offenbar nicht geneigt, das unnütze Gespräch fortzusetzen, zum Haus hinüber.
    War sein Tun also absurd? Nein. Es war seine Erinnerung an die Freuden des auf rudernden Starenflügeln aus Indien und Persien herannahenden Frühlings, an die Stimmen des Lebens, die, rein wie ein Quell, heiter im elterlichen Garten schlugen oder im Gehölz am Rande des vorzeiten verlassenen Städtchens, wo das Vogelgezwitscher im jungen Grün der Bäume hin- und herbrandet wie ein Echo. Kein Star wird je seinen Brutkasten aufsuchen. Der Kasten aber ist sein Gebet. Mit dem er um Fülle bittet, um das Fluten des Lebens im Frühjahr.
    Worum bittet der Maschinengewehrschütze, der den Abzug durchzieht? Um den Tod. Darum, dass seinesgleichen, die Entrechteten, mehr werden – denn nur sie, die mit der Wurzel aus dem eigenen Boden Gerissenen, die ihre Bestimmung verloren haben, sind fähig, das Brot des Hasses miteinander zu teilen. Hier, in Narjan-Mar, habe ich aus dem Radio vom Beginn des Abchasien-Krieges erfahren. Von Freischärlern und irgendwelchen Regierungstruppen, von einem Luftangriff auf Suchumi aus getarnten Bombern, von mit Maschinengewehrsalven niedergemachten Affen aus dem dortigen Forschungsinstitut … Aus unerfindlichem Grund hat mich das besonders berührt … Ich weiß: Nach allem, was später in Zentralasien und Tschetschenien geschehen ist, sollte man sich verbieten, von den Affen zu reden. Und doch … Der gibraltarische Volksglaube, wonach die Stadt so lange stehen werde, wie in
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