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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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ihr Berberaffen leben, bekommt hier einen unerwarteten Sinn. Gibt es keine Affen mehr, wird die Stadt untergehen.
    Warum? Das zu wissen ist uns nicht gegeben.
    Aber die Zeit verging. Und eines Tages verschlug es mich beruflich nach Abchasien. Als das überfüllte Fahrzeug nach Gagra hineinrollte – mit abgestelltem Motor, um Benzin zu sparen –, begriff ich es nicht, derart hatte sich alles verändert. Nirgends ein Mensch auf der Straße, nirgends ein Eiskiosk. Nur ein schweigsamer, magerhalsiger Hausmeister, der Eukalyptusblätter zusammenrecht und sie in der Stille entzündet wie wohlriechendes Rauchwerk. An die Strandcafés erinnern gerade noch die Löcher dort im Asphalt, wo früher im Sommer gestreifte Sonnenschirme mit Fransen eingesteckt wurden. Auf dem Sand rosten die Gerippe demolierter Kutter und Autos vor sich hin. Früher blühende Siedlungen liegen menschenverlassen da, eingeäschert. Zwischen den Ruinen streunen verwilderte Hunde. Wunderschöne Villen ragen rußgeschwärzt mit eingestürzten Dächern auf, wie riesige Termitenbauten. Unter dem Putz kommt der Sandstein hervor, als wisse er, dass seine Zeit im Dienste des Menschen vorüber ist. Als wolle er zurück zum wilden Leben der Natur, zurück in ihren ewigen Kreislauf.
    Das ist die Vergeltung. Nicht nur für die Affen, aber auch für sie. Jedenfalls für den Hass, den die Seele sich zum Gebieter genommen hat.
    Krieg bricht dort aus, wo die Menschen den Krieg wollen. Wozu, weiß ich nicht. Vielleicht um angesichts des Feindes sich als Volk wieder im Blut zusammengeschweißt zu fühlen? Oder um die verbotene Freude des Verbrechens zu schmecken? Oder im Kampf sich würdige Führer zu finden?
    Aber hält denn das Verbrechen irgendeine Freude bereit? Wurden die Menschen je durch Krieg zum Volk vereint? Und bekam es je einen Führer, dem es hätte vertrauen können?
    Vielleicht bricht Krieg ja deshalb aus, damit die Menschen sich zuletzt an Gott erinnern, der aus den Entrechteten die Menschheit erschafft. Doch wie lange muss so ein Krieg dauern, damit die Menschen sich von den Hasspropheten befreien? Oh, bis dahin ist es weit … Noch ist die Stadt nicht zerstört. Die Männer in den aufgekrempelten gefleckten Hemden mit den automatischen Waffen in kraftvollen Händen sind gerade erst in Harnisch geraten, sie freuen sich an dem gedankenlosen, grausamen Spiel und ahnen noch nicht, dass der Krieg niemanden verschont. Auch keinen von ihnen. Und dass Maschinengewehre zwar gute Mordinstrumente sind, aber wenig Schutz bieten. Nicht vor dem Tod eines nahen Menschen, nicht vor Kälte, Einsamkeit, Verzweiflung, Sinnleere …
    Noch ist es Sommer. Hitze. Schafe in Hülle und Fülle auf fremden Höfen, Wein in fremden Kellern. Noch sieht es so aus, als bräuchte man bloß den Feind aus diesem umzäunten Weinberg da zu stoßen, und das wärs. Der Sieg wäre errungen …
    Was kann man dem entgegenstellen?
    Ich habe zwei Bücher dabei: Tagebuchaufzeichnungen von Michail Prischwin und einen wunderbaren Erzählungsband von Boris Schergin über werkendes Volk im Hohen Norden: über Schiffseigner, Steuermänner, Erzähler, Zimmerer und Fangmänner. Er hat wohl keinen ausgelassen, der erwähnt gehört. Ein dickleibiges Buch, lästig als Reisegepäck, aber ich musste es kaufen, denn in Moskau findet man so etwas nicht, außerdem ist es wirklich großartig. Besonders wegen der Reflexionen über die Bestimmung des Menschen. Das gibt es auch bei Prischwin, seine Aufzeichnungen werfen unentwegt die Frage nach dem Sinn des Lebens auf – was ihn zu einem ganz erstaunlichen Vertiefen in sich selbst und das Leben der Natur bringt. Mit den Sinngebungen ist es wie mit den Blumen im Gras: sie verstecken sich nicht, aber ebenso wenig wuchern sie einem entgegen, der Mensch soll sie suchen, suchen müssen …
    »Seit etlichen Jahren«, lese ich bei Schergin, »zeichne ich die gesprochene Sprache auf, vor allem die meiner Heimat, dem früheren Gouvernement Archangelsk. Ich jage den mündlichen Perlen nach … auf den Dampfern und Schonern, Landebrücken und Ufern unserer liederreichen Flüsse hier im Hohen Norden …«
    Schergin macht den Eindruck eines Menschen von ungewöhnlicher Unversehrtheit, Ganzheit. Nirgendwo, auch nicht in seinem Tagebuch, findet man bei ihm irgendeinen Knacks, einen Riss, ohne den ein heutiger Schriftsteller nicht mehr vorstellbar ist.
    Prischwin dagegen hat sich seelisch sehr gequält, ehe er einen ruhigen Begriff von sich und seiner Aufgabe gewann, hat viel
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