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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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Reisigbesens zwei Gänseflügel an der Wand, und auf dem aus Brettern gezimmerten Tisch unterhalb des kleinen Fensterchens steht ein verrußter Kochtopf, überwölkt vom duftenden Dampf einer frisch gekochten Suppe.
    Jetzt, da wir uns sattgegessen haben, mein treuer Freund, und belebende Wärme den Körper durchströmt, während im Kessel auf dem Ofen Teewasser dem Siedepunkt entgegenfiept und -zischt, könnte es mir vielleicht Spaß machen zu philosophieren, aber du weißt ja selber: Die beste alle möglichen Arten des Philosophierens ist ein starker heißer Tee.
    Ein starker, schwarzer, heißer Tee … Ich schweige. Aber ich könnte reden! Folge dem Zufall, Pjotr, folge dem Zufall, junger Freund, denn der Zufall ist der Vater des Schicksals. Lach nur, lach – aber ich weiß, was ich sage. Auch ich habe einmal gedacht, ich könnte frei über mich verfügen. Auch ich habe Dinge erlebt, die mir absolut zufällig vorkamen (wie alle glaubte ich als Jugendlicher, ich hätte ebenso gut ein anderes Buch lesen können oder einen anderen Menschen treffen, hätte früher kommen können oder später, und dann wäre dies oder das geschehen und etwas anderes nicht). Aber später stellt sich heraus, dass dem nicht so ist: Ich hatte genau dieses eine Buch lesen müssen (habe jedenfalls genau dieses Buch gelesen) und bin eben genau dem Menschen begegnet, dem ich begegnet bin. Generell unterscheidet sich das Erwachsenendasein von der Jugend dadurch, dass es alle Zufälligkeiten des gelebten Lebens zu einer Kette von Zwangsläufigkeiten zusammenzuschließen trachtet – und eines Tages entdeckst du, dass du von lauter Zufälligkeiten (Zwangsläufigkeiten) umstellt bist wie der König im Schach und du, um dem Matt zu entgehen, einen ganz bestimmten Schritt tun musst. Zum Beispiel auf eine Insel fahren, mit der dich nichts, scheinbar ganz und gar nichts verbindet …
    Du glaubst mir nicht, aber das ist wirklich so. Deshalb sage ich dir auch: Folge dem Zufall, Pjotr! Folge ihm, damit nicht der brühend heiße Tee auf deine Hose spritzt, denn der Zufall ist das Samenkorn der Kausalkette, das darauf wartet aufzugehen … Jajaja, genau das wollte ich sagen: Je dicker die Hose, desto nachhaltiger und unerträglicher verbrennt der kochende Tee dir das Bein! War es ein Zufall, dass das erste von mir selbstständig gelesene Buch
Robinson Crusoe
war? Wozu lange orakeln, wenn es so war? Das erste Buch vergisst man nicht, ich habe meines geliebt – und folglich auch die Insel. Denn sosehr Robinson sich auch nach der Heimat sehnte, die beste Zeit seines Lebens blieben doch die achtundzwanzig Jahre auf jener Insel, auf die ihn ein Zufall verschlagen hatte und die er zu lieben gezwungen war. Ja, zu lieben! Und der Autor hat das verstanden. Mehr noch, von all den Sorgen befreit, die ihn beschwert und bedrückt hatten, stimmt Robinson bisweilen einen innigen Lobgesang auf die Insel an, die vor uns bald wie der entfaltete Bibelvers aus dem ersten Buch Mose erscheint, als Feste zwischen den Wassern, bald wie das irdische Abbild des Paradieses, bald wie eine Metapher vollkommener menschlicher Unabhängigkeit und Freiheit.
    Inseln haben ihre poetische Genealogie, genau wie Berge, Flüsse, Höhlen, Grotten, bestellte Felder und andere Orte, die für den Menschen besondere Anziehungskraft besitzen. Abgeschiedenheit, Abgeschlossenheit, Andersheit, Geheimnis – dies fällt als Erstes ein, wenn das Gespräch auf die Insel kommt. Die Gefühle, die sie einem schenkt, sind nicht mit denen zu vergleichen, die auf einsamen Berggipfeln wachgerufen werden, was ihre Anziehungskraft aber nicht schmälert. Das wissen kleine Jungen und Schriftsteller bestens, darin unterscheiden wir, du und ich, uns weder von ihnen noch von anderen. Zunächst müssen wir uns tief vor Stevenson verneigen, der in seiner
Schatzinsel
die romantische Vorstellung vom Eiland aufs Vollkommenste formuliert hat. Um nach Defoe und Stevenson das »Mysteriöse« der Insel zu verstärken, musste Jules Verne der Erzählung phantastische Details hinzufügen, womit er einen ganzen Zweig von ihm nachfolgenden Schriftstellern verführte und auf Abwege lockte, sie zu unverbesserlichen Phantasten machte. Aber was für eine Versuchung ja auch!
    Am Ursprung der Tradition stehen Homers
Odyssee
und Vergils
Aeneis
. Die Eilande, die dem Inselbewohner Odysseus begegnen, sind nicht einfach rätselhaft, sie sind eine Gefahr für Leib und Leben. Odysseus ist König von Ithaka, doch jede Insel, die auf dem Weg
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