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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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seiner Wanderschaft liegt, wird von einem anderen regiert, jede Insel ist ein eigenes Königreich und unterliegt ganz der Macht des jeweiligen Herrschers, der zudem nicht unbedingt ein Mensch sein muss.
    Im frühen Mittelalter kommt ein neues Motiv hinzu: Suche, unbezwingbares Streben nach der Insel, die noch unentdeckt irgendwo in der weiten Wüste des Meeres liegt. Was jetzt die Schiffe antreibt, die Meere zu durchpflügen, ist nicht länger die Heimkehr, sondern das Hinaus, der Aufbruch in ein unbekanntes Land. Dieses, als Land der Seligkeit entworfen, veranlasst Brendan den Reisenden, jahrelang in den Fluten umherzuirren, und eigentlich ist es diese unermüdliche Pilgerschaft, die ihn zum Heiligen werden lässt: wie die Irrfahrt des Aeneas ist auch Brendans Seereise geistiges Tun, fortwährendes Gebet. Übrigens will Brendan jenes Eiland, auf das die Engel herniedersteigen, gesehen haben. Und vielleicht hat er es ja gefunden, wenngleich spätere Forschungsreisende, die an die Wirklichkeit seiner Gesichte glaubten, die physische Existenz der Insel nicht nachzuweisen vermochten.
    In der Epoche der großen geographischen Entdeckungen erfreuten sich frei erfundene Beschreibungen nicht minder frei erfundener Reisen ungeheurer Beliebtheit, in ihnen strotzte es nur so von hanebüchenen Phantastereien: von Ungetümen, Zwergen, Wundern, absurden Bräuchen – was zuletzt in die ätzenden Satiren von Swift und Rabelais mündete, deren Zwerge, Riesen, Houyhnhnms und Makräonen Inselbewohner sind. Auch Utopia ist eine Insel und rundum fiktiv. Thomas More schrieb eine auf den Kopf gestellte Satire: das Bild des idealen Staates.
    Aber die Insel! Die Insel kann nicht nur der Satire dienen, selbst wenn sich ihrer ein Meister wie Anatole France annimmt. Die Insel lockt Künstler und Dichter, sie verbirgt sich wie eine Frau, und träumt wie eine Frau davon, entdeckt und besungen zu werden. Im Jahr 1843 flieht von einem amerikanischen Walfänger ein Mann auf eine der Marquesas-Inseln – Herman Melville, der noch gänzlich unbekannte Schriftsteller und künftige Verfasser des
Moby Dick
, der im riesigen Buch der Inseln das in unserem Zusammenhang so wichtige Thema der Flucht anstimmt. Des Davonlaufens vor den rigiden Dienstvorschriften, den menschlichen Beziehungen mit ihrer Gemeinheit und dem Zwang, die bürgerlichen Gesetze und Bräuche annehmen zu müssen. Des Fortgehens von der Welt, von allem. Die Insel wandelt sich vom Sammelpunkt der Gefahren zum Fluchtpunkt der Rettung, sie wird zum letzten Territorium, wo Unversehrtheit noch möglich ist, wo sich noch wahre menschliche Beziehungen finden lassen und die Größe der Natur noch berührt werden kann. Der Erste ist Melville, ihm folgt Gauguin (
Noa Noa
) und später Rockwell Kent, der auf der Suche nach Authentizität sich immer weiter von der Zivilisation entfernen musste – bis zu den Gletschern Grönlands, wo er seine boreale Idylle
Salamina
schrieb.
    Die Flucht, auch die meistenteils misslingende, das Paradies, auch das nicht gewonnene, der Schatz, auch der nicht gefundene – diese Topoi, die bereits den Büchern von Melville und Gaugin einen furchtsamen Ton beimischen, klingen voll in den Werken zweier zeitgenössischer Autoren auf, in denen das Magische der Insel eine ungeheure Handlungsspannung erzeugt: John Fowles
Der Magus
führt uns zweitausend Jahre nach der
Odyssee
und der
Aeneis
zurück ins Mittelmeer, wo unter Vergessen und sonnendurchflutetem Traum verborgen die alten Mythen darauf warten aufzuerstehen und fortzuleben; T.C. Boyles
Der Samurai von Savannah
dagegen ist die klassische Fluchtgeschichte eines, der in die Falle der Insel gerät.
    Die Insel als Idee wuchs mir jedenfalls ans Herz, lange bevor ich den Fuß auf irgendeine reale setzte.
    So hat mich der Zufall in die erste Falle tappen lassen. Die zweite – der Traum von einer Reise – schnappte wenig später zu. Auch daran ist nichts Besonderes. Alle kleinen Jungen träumen davon zu reisen. Und zwar zu
reisen
, weißt du, das heißt: sich Gefahren aussetzen, laufen bis das schwere Gepäck oder der Durst dich auslaugen, vorwärtskriechen, mit dem eigenen Ich den Raum vermessen, sich mit ihm verschwistern und ihm, nach dem Gesetz der Verwandtschaft, all seine Kraft, Verzweiflung, Begeisterung hingeben – um im Gegenzug etwas zu erhalten, wofür ich keinen Namen kenne, aber Touristen, die aus dem Bus wie aus einem Aquarium auf die Sehenswürdigkeiten von Moskau, Paris oder London schauen, werden dessen
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