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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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vierhunderttausend Quadratkilometer Terra incognita.
    Mir war natürlich bewusst, dass 1927 weit zurücklag und sämtliche weißen Flecke auf den Landkarten der Polargebiete längst aufgefüllt waren. Doch wenn der Zufall dieses Atlas bedurfte, so nur, um meinen Kurs abzustecken: nach Norden. Der Hohe Norden bleibt immer noch der Hohe Norden, kein dickärschiger Tourist kommt einem hier mit seiner verfluchten Kamera dazwischen, um sich vor irgendeiner »Sehenswürdigkeit« zu verewigen. Der Norden ist zu rau, um sich eitle Selbstgefälligkeit zu erlauben. Und zu weiträumig, als dass hier die Maßstäbe für unsere Sorgen und Erregungsanlässe unverändert blieben. Denn hier ist der Mensch wahrlich klein, und groß der ihn bedrängende Raum, zahlreich sind die Seen, tief die Flüsse, reglos-kalt die Moore …
    Ich wusste nichts über den Hohen Norden. Ich war Nachrichtenreporter in einer Zeitung, und das Einzige, was mich von meinen Kollegen unterschied – und zweifellos negativ, weil es mich immer stärker vom Arbeiten abhielt – war der unbezähmbare Wunsch, meine eigene Reise zu machen. Das Zeitungsgetratsche schnürte mir die Luft ab. Ich entwickelte einen regelrechten Hass. Ich suchte in den Landkarten Rettung, deren exotische Toponyme ich mir hersagte wie Beschwörungen: Byrrangagebirge, 1146 Meter, mit Gletschern. Taimyrhalbinsel. Zu schwierig für einen Menschen, der keinerlei Expeditionserfahrung besitzt. Sachanin-Wasserfall. Klingt schön. Achtzehn Kilometer flussabwärts gibt es einen Balok 4 , dort beginnt ein gangbarer Weg. Aber das Ganze liegt auf Nowaja Semlja. Ein gigantischer Archipel des Verteidigungsministeriums, Sperrgebiet, der Pol der Unzugänglichkeit … Die Kolokolow-Bucht, ein Leuchtturm, die Tschajatschi-Inseln, das (unbewohnte) Dorf Nischni Schar … Ein faszinierendes Gemisch aus Land und Wasser, aus Hochmooren, Flachwassergebieten, Binnenseen und kleinen Flüsschen. Kein Pfad, kein Anleger, keine Behausung, keine Menschen. Hunderte Kilometer kalten Sandstrands. Dort – dort ist das Ende, der Rand der Welt …
    Ich steckte voller Zweifel, was meine Kräfte betraf, und fragte mich, wie dieser Raum sich mir aufschließen würde. Aber da trat erneut der Zufall als Verlocker auf, verschlug mich auf die Solowezki-Inseln. Die Solowezki-Inseln begeistern ja jeden, und wer zum ersten Mal dort dem Hohen Norden begegnet, dazu bei heiterem Sommerwetter, der ist zwangsläufig verzaubert, krank, außerstande, die sich ihm darbietende Wirklichkeit zu begreifen. Die – wie auf japanischen Zeichnungen – windgedrechselten Kiefern, die anrührenden Krüppelbirken und blumenübersäten Wiesen, die Torfmoos-Föhrenwälder und die offenen Tundraräume, durch deren rötliche Haut wie harte Beulen Findlinge überzogen vom Milchschaum gelber und grauer Flechten stoßen – alles, bis hin zu den Spiegelbildern der verlassenen Gotteshäuser auf den dunklen Flächen der Seen, bis hin zur bebenden Waldesstille, die den begleitet, der mit dem Boot die einst von Mönchen ins Innere der Insel gegrabenen Kanäle durchrudert, – alles hält der Bezirzte für bare Münze und glaubt, dies sei nun der Hohe Norden.
    Haben wir das aus dem Fernsehen, Petja? Ob die französischen Schlösser oder der Karneval von Rio, das Leben in den Mangrovenwäldern auf Borneo oder die nächtliche afrikanische Savanne, alles ist zugänglich geworden – und auf der Stelle wertlos. Und schon sieht man nicht mehr, kann man nicht mehr verstehen, dass Solowki ein besonderer Ort ist, dass Sawwati und Sossima mit ihrer Lodje womöglich nicht von Ungefähr an diesen Gestaden landeten, dass hier das Wunderbare aufs Unglaublichste verdichtet ist, als habe der Herr diesen Krümel Erde wie einen Film montiert, ausschließlich mit berückenden, wie eigens zu Kontemplation und Gebet erschaffenen Anblicken. Und kein Anblick ist hier beliebig, kein Gebäude, dessen Fenster zufällig in die Landschaft hinausgingen, keine Kirche, die nicht einen Buckel, ein Inselchen, eine stille Meeresbucht schmückte. Natürlich, Solowki ist ein blaues, durch fünf Jahrhunderte vom Menschen zu himmlischer Reinheit geschliffenes Kleinod, und nicht der ganze restliche Norden kann so sein, auch wenn noch andernorts in Sommernächten der Himmel feuervogelschwänzig lodern mag und in der Tundra der Stein sich beflechtet.
    Aber unfähig, all dies zu verstehen, stürzte ich, kaum wieder in Archangelsk von Bord gegangen, zum Schiffsfahrplan, um zu schauen, welches Ziel sich
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