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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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noch ansteuern ließe. Denn nach den Solowezki-Inseln schien endgültig geklärt: Der Hohe Norden war der stärkste Eindruck meines Lebens – dorthin musste also meine Reise gehen. Wohin genau, wusste ich nicht, aber die Route der
Juschar
gefiel mir: Archangelsk – Narjan-Mar, via Kolgujew. Bis zur Insel fuhr die Fähre nur einen Tag, auf dem Festland nahezu ursprünglich-wilde Orte zurücklassend. Aber ich dachte, eine Insel, zudem eine nicht gerade kleine in der Barentssee, ist genau das, was ich brauche …
    Was ist das Gute an einem Traum? Dass er nicht gleich Wirklichkeit wird. Er lebt tief in unserem Herzen, erfüllt es mit Hoffnung. Ich kehrte nach Moskau zurück. In der Alltagshatz vergaß ich die Insel rasch. Aber der Zufall hatte seine Arbeit getan; jetzt genügte es zu warten, bis ich ausführen würde, was mir vorgezeichnet war.
    Vertrau dem Schicksal, Petja, und leg Holz nach! Die Scheite im Ofen bersten, in lustigen, kringeligen Spänen schießt das Feuer auf und davon, säuselt im Rohr: Was Wirklichkeit werden sollte, verwirklicht sich nun.
    Glaub mir, ich habe den Zeitpunkt hinausgezögert, so lang ich konnte. Ich gab meine Stelle auf, fuhr nach Kamtschatka und heuerte als Matrose und Fischverarbeiter auf einem Trawler an. Am Tag vor seinem Auslaufen packte mich die Furcht und ich floh an Land …
    Ich war zu dem Schluss gekommen, dass im Gefängnis einer rostigen schwimmenden Fabrik Fische auszunehmen etwas vollkommen anderes ist als auf einem der La Perouse’schen Schiffe die Meere zu durchpflügen. Womit ich richtig lag. Aber seltsam: Meine Unfähigkeit und, wie sich zeigte, auch Unlust, etwas in meinem Leben zu verändern, ließen mich immer bedrückter und deprimierter werden. Es stellte sich heraus, dass ich nur das konnte, was ein Journalist können muss – sprich: telefonieren, Nachrichten und Kommentare herbeischaffen, rauchen, Kaffee trinken, mit dem Gesicht eines, der schon alles weiß oder sogar noch ein bisschen mehr, über jeden Gegenstand plaudern und die Welt in publikationstaugliche oder -untaugliche Themen parzelliert wahrnehmen … Abends kam ich zerschlagen nach Hause. Eine Idee, wie ich meinen Traum verwirklichen könnte, hatte ich nicht.
    Es vergingen einige Jahre. In meinem Leben geriet alles aus den Fugen. Ich wurde von meiner Frau geschieden. Ich versuchte beruflich weiterzukommen, kam bei einer der damals renommiertesten Zeitungen unter und schrieb ernste Artikel. Die Chefs lobten mich, aber mir wurde von meiner eigenen Ernsthaftigkeit ganz gruselig, auch von meiner Sprache, die offenbar sogar gedruckt greisenhaft-langweilig klang: kein Leserbriefschreiber hielt mich je für jünger als vierzig, obwohl ich erst siebenundzwanzig war.
    Mir wurde bewusst, dass ich in die Jahre gekommen war und sterben würde. Angst saß mir im Nacken.
    Da begann ich eines Nachts zu reden, als ich wieder einmal mit einem Freund in der Küche hockte und wir mit Alkohol der Angst zu entfliehen versuchten. Ich appellierte daran, nicht zu verzweifeln, es gebe noch eine Chance für uns auf ein echtes Menschenleben: die Insel. Wir müssten aufbrechen dorthin. Müssten das alles sehen: den Berg Paarkow, den Kriwoje-See, das Flüsschen Gussinaja, die heiligen Hügel …
    Mein Freund hörte aufmerksam zu. Dann öffnete er die schwergewordenen Lider und blickte mir in die Augen:
    »Alles Bullshit. Gibts nicht, so eine Insel …«
    Wozu ihm widersprechen? Ich kramte eine Karte mit großem Maßstab hervor und betrachtete die Insel meiner Hoffnung aufmerksamer. Was mich sofort an ihr anzog, war die Vollkommenheit ihrer Form: beinah rund, und an den Rändern etwas eingedrückt, wie eine abgegriffene Münze. Ausgedehntes Grün: flach. Natürlich einige Flüsschen, Seen, Hügel. Seltsame offene Sandbereiche … Alles, was man für die Welt im Kleinformat braucht.
    Im Süden und Osten schieben sich, zwei spillerigen Krebsscheren gleich, vom Meer her lange schmale Sandinseln an Kolgujew, die Ploskije Koschki. Auf der südlichen Nehrung ist eine Isba eingezeichnet – vielleicht für Fischer oder Jäger? Plötzlich überkam mich der unbändige Wunsch, dort zu sein, in dieser Hütte, zwischen Himmel und Erde, und ringsumher ist nichts zu sehen außer dem Meer, nichts zu hören außer den Rufen der Vögel … Ich wollte mich dort für eine Woche, einen Monat verkriechen … Mich zusammenziehen. »Mich selbst sterben.«
    Ich wollte dorthin für immer fliehen – während es genügt hätte, hinzufahren. Ob du es
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