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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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nie teilhaftig. Der Raum beschenkt einen mit unzähligen Reichtümern. Der Raum macht einen zum Menschen …
    Aber wo bleibt die Gerechtigkeit?! Fünf Jahrhunderte nach den Entdeckungen des Kolumbus ist die Erde von Tausenden von Glückspilzen, die vor uns auf die Welt kommen durften, derart gründlich ausgeforscht, bereist und mit akribischem Ernst beschrieben worden, dass wir scheinbar nicht mehr die geringste Chance haben, die Begeisterung dessen zu erleben, der als Erstentdecker ein unbekanntes Gestade betritt. Grund genug, zu verzweifeln. Alle modernen Reisen erinnern in ihrer Vorsätzlichkeit an die Bootsfahrt der drei Helden von Jerome K. Jerome und sind in diesem Sinn zutiefst literarisch. Aber wenn wir uns damit abfinden, was wäre Schlimmes daran? Die Reise entwächst der Welt der Bücher und kehrt in diese zurück: Sie ist ein eigenes Genre, der Literatur wie des Films – das ist ihre einzige Rechtfertigung vor den Menschen. Alle modernen Reisenden begreifen das bestens, ob Cousteau mit seiner Crew, für die die Calypso, dieses Schiff, dessen Name wie ein Echo auf Homer klingt, zum Zuhause wurde, ob Reinhold Messner, der allein den Everest bezwang, oder Michel Siffre, dieser Bewohner dunkler Höhlenschlünde. Alle müssen sie Rechenschaft darüber ablegen, was sie erleben durften, andernfalls wendet die Menschheit sich von ihnen ab wie von jemandem, der sich Gemeineigentum unter den Nagel gerissen hat und jetzt damit geizt. Sie müssen den Menschen das Geheimnis zurückgeben.
    Zwei, drei Jahrhunderte lang haben Wissenschaftler sich mit nichts anderem befasst, als gigantische Inventarlisten all dessen zu erstellen, was es auf der Erde gibt, und es zu systematisieren. Und so wurde alles bekannt. Und alles überdies zugänglich. Und das Geheimnis verschwand. Wen hielten die Säulen des Herakles heute noch auf? Wer würde heute noch behaupten, jenseits der norwegischen Nebelküsten gebe es »weder Erde noch Himmel«? Selbst die Sahara hat vor dem Menschen kapituliert und wurde zur riesigen Rennstrecke für die Rallye Paris-Dakar; selbst der amazonische Regenwald kann nicht gegen die gigantische Technik an, die ihn zerfetzt und aus dem Boden reißt, um sich ins Erdinnere zu fressen, zu den Zinn- und Manganerzvorkommen …
    Der Verlust des Geheimnisses ist unhintergehbar. Aber weißt du, was der Name Kalypso bedeutet? Die Verbergende. Die Reisenden des 20. Jahrhunderts suchen das Rätsel, nicht seine Entschleierung, schlimmstenfalls auch Abenteuer zum eigenen Schaden, um die Menschheit aus alptraumhafter Allwissenheit und Selbstzufriedenheit zu erretten. Und wenn wir, mein Freund, uns aus der Hauptstadt an den Rand eines abgelegenen Flachwassergebiets mit glitschigen Lehmbänken versetzen, um hier unseren Stiefelabdruck zu hinterlassen, dann versuchen auch wir uns in dieser Zauberei.
    Aber die Teephilosophie hat mich auf Abwege geführt. Ich hatte vom Zufall angefangen. Der Zusammenhang ist folgender: Nach allen Büchern, die ich verschlungen hatte, träumte auch ich davon, ans Ende der Welt aufzubrechen, wusste aber nicht, wohin. Da fiel mir ein Atlas mit Landkarten voll weißer Flecken in die Hände: Was war das, wenn nicht die Schlinge des Zufalls? Echte weiße Flecke – grandios! Sofort stürzte alles über mich herein: Terra incognita, Hoffnung, Herausforderung. Die Aussicht auf Unerhörtes; teuflische Versuchung: Alles, was dir dort widerfährt, widerfährt nur dir allein, garantierte Authentizität aller Gefühle, keine touristischen Surrogate, keine televisionären Substitute …
    Genau genommen war es ein alter, äußerst gediegener deutscher Weltatlas aus dem Jahr 1927. Die Karten von Europa, Afrika und Ozeanien, besonders von den Landstrichen und Gebieten, auf die Deutschland als verlorene Besitzungen Anspruch erheben mochte, waren mit solch perfekter, unbezweifelbarer Genauigkeit wiedergegeben, als wären es Arbeiten des allerkunstfertigsten Miniaturstechers. Doch plötzlich verlieren sich die fein ausgeführten Reliefschnitte, erleidet die Klarheit der Linien Einbußen, tritt eine schülerhafte Unsicherheit des Kartographen zutage. Die Pünktchen da zum Beispiel: so ungefähr, muss die Küstenlinie verlaufen. Die Flüsse: Mündungen, von denen punktierte Linien abgehen. Ein riesiger See, bestimmt fünfmal so groß wie der Genfer, immerhin der größte in Europa – auch er gänzlich skizzenhaft umrissen. Dahinter: nichts. Eine weiße Fläche. Terra incognita. Die Taimyrhalbinsel:
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