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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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auskuriert, und jetzt noch der Typhus … Geben Sie ihn mir mit … Nein, sagt der, Ihr Junge ist schwerkrank, so jemanden können wir nicht entlassen, er hat große Geschwüre …
    Ich geh zu meinem Jungen und seh, sein Bauch ist ganz aufgedunsen, ja … Ich frage den Doktor: Wie ists um ihn bestellt, stirbt er mir?
    Er ist gestorben. Ich habe einen Monat nicht geschlafen. Und sieben Kilo abgenommen …«
    Tags zuvor ist ausgerechnet mein Tonband kaputtgegangen, ich muss die ganze Zeit mit dem Finger die Aufnahmetaste drücken. Nach anderthalb Stunden ist der Finger so überanstrengt, dass er zittert und ich einen dumpfen Schmerz verspüre. Aber ich will wissen, wie sich das Leben eines Menschen formt, was ihm bis ins Alter im Gedächtnis bleibt, was das Wichtigste ist.
    Einmal im Traum, da hat sie den Saum von einem Wald gesehen. Und einen Echten Johannisbeerstrauch. Der war ein einziges Rot vor lauter Früchten. Eine Weile später fuhr sie dann nach Mariza, das Dorf, aus dem sie rausstammt, und ging in den Wald. Und kommt auf einen Heuschlag. Und erstarrt. Weil: was sie dort sah, war ganz genau der Ort aus ihrem Traum. Ganz genau der Waldrand, ganz genau der vor lauter Früchten überrote Johannisbeerstrauch. Der Waldrand: viel Grün mit Schattenlöchern zwischen den Bäumen und wogendes Gras – und dieser Strauch, flammenartig lodernd …
    Was hat also, im Rückblick, dieses Leben ausgemacht? Die über die Ufer getretene Petschora während der Kindheit, der Tod des Mannes und die von ihm ausgelöste Verwunderung über die künftig fortsetzungslose Liebe, der Tod des Sohnes, der ihr Muttersein hatte sinnlos werden lassen – und dieser Wirklichkeit gewordene Traum. Warum diese Dinge, weiß ich nicht. Aber was soll man diesem »Großvater, wo ist denn das Ufer?« hinzufügen? Die Hochwasser haben die Erde überflutet, nirgends ein Ort für die Vögel, ihr Nest zu bauen …
    Übermorgen, nein, morgen schon geht mein Hubschrauber. Dann werde ich meine Insel sehen. Wozu auch immer. Das werde ich später, wenn ich sie sehe, wissen. Ich bin nicht sicher, alles richtig und auf die denkbar beste Weise zu machen, aber solange ich meine Insel erschaffe, sie aus eigenen Träumen, Buchzitaten und bruchstückhaften Erzählungen über sie zusammenfüge, so lange lebe ich. Sie muss Wirklichkeit werden.
    »Es ist an der Zeit, etwas zu erschaffen!« Ich springe wieder auf das Floß des Hotelbetts, ziehe mir die Decke über den Kopf und schlafe ein.
    2 Alles Vortreffliche ist selten. (Tullius)
    3 Diese Wendung stammt von Ornette Coleman, dem Pionier des Free Jazz.

Rechtfertigung des sinnlosen Reisens
    Mein Freund Pjotr, mein treuer Weggefährte! Ich möchte, dass du weißt, wie die Insel aufgetaucht ist. Wie sie, mir zur Notwendigkeit werdend, aus den Tiefen emporsteigt, ein grauer, vom morgendlichen Sonnenlicht unberührter, horizontweit ausgespannter Strand, hinter dem sich, baldachinartig, ein dichter Wald bis zu den fernen Bergen erstreckt. Oder so: Sie tritt aus Nebel hervor, den die Stimmen aufgeschreckter Möwen durchschrillen; ein niedriges, braunes, sich in feierlicher Hoffnungs- und Hortlosigkeit nach allen Seiten hin ausdehnendes Land. Glaubst du, dass das ein und dieselbe Insel ist, die Insel meines Traums? Mit steifen Fingern krame ich in den Taschen meiner Daunenjacke nach der Streichholzschachtel, kann selber nicht begreifen, wie es zu dieser bestürzenden Metamorphose gekommen ist, suche selber ratlos mit den Augen das freudlose Ufer ab in der Hoffnung, wenigstens ein Bäumchen zu entdecken, wenigstens einen Hügel, von dem aus wir uns einen Überblick über die Umgebung verschaffen können – aber nichts. In Watstiefeln kämpfen wir uns durchs Flachwasser, das Boot mit der Ausrüstung vor uns her stoßend, denn wir haben, damit die Schraube nicht beschädigt wird, den Motor abgestellt. Kilometerweit ringsum nur diese flache, trübe Wasserfläche. Nebel, den die Sonne zu durchdringen versucht. Plötzlich stürzt sich von einer uns rechterhand begleitenden glitschigen Lehmbank, deretwegen wir nicht ans Ufer herankommen, eine riesige, laut zeternde Schar Weißwangengänse ins Meer – und ich erwache. Der eisige Nebel, von dem das Gesicht steif und unbeweglich wird, entpuppt sich als die vom Eisenofen abstrahlende Wärme eines prasselnden Feuers; neben dem unter der Zimmerdecke entlanglaufenden knieförmigen Rohr trocknet an einer Leine unsere durchfeuchtete Kleidung; neben der Tür lehnen anstelle eines
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