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Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)

Titel: Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
Autoren: Wassili Golowanow
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durchlebt und sich geprüft – durch Unterwegssein und Begegnung mit den unterschiedlichsten Menschen. Zahllose Tagebucheinträge von ihm, insbesondere aus den frühen Jahren, bilden ein erschütterndes auswegloses inneres Drama ab, von dem im reifen Alter, nachdem die Seelenqual sich gelegt hat, nichts mehr übrig ist. So notiert er zum Beispiel auf einer seiner Asienreisen: »Man muss sich selbst sterben …« Alle seine frühen Reisen sind auch ein Sterben vom Selbst,
Urasa
auf Kirgisisch,
Saum
auf Arabisch, eine besondere Enthaltung von allem Gewohnten. Auch vom gewohnten Selbst. Er hat viel über sich erfahren auf den Reisen, das ihm später ermöglichte, sich von seinem Schmerz zu befreien, ein ganzheitlicher Mensch zu werden.
    Sie enthalten etwas für mich sehr Wichtiges, die Prischwin’schen Aufzeichnungen jener Jahre …
    Gestern ging ich abends an die Petschora, zum Hafen, wo mir gleich nach der Ankunft ein altes Haus aufgefallen war, geschwärzt, groß, mit Fenstern, deren Blick früher einmal direkt auf den Fluss hinausgegangen sein muss, jetzt aber war die Sicht von einem langen Zaun des Hafenspeichers verstellt. Ich fragte mich, ob da jemand wohnt. War nicht recht auszumachen. Auf dem Dach Moos und Kamille. Der kleine Küchengarten lag brach, nur ein winziges Beet mit doldenüberkröntem Dill zeugte davon, dass hier doch jemand lebte, jemand Altes. Und tatsächlich ging in diesem Augenblick die niedrige Tür eines kleinen Anbaus auf, und heraus schaute ein verhutzeltes betagtes Frauchen mit weißem Kopftuch. Ich rief sie an, ein Wort ergab das andere – sie bat mich herein, setzte mir Tee mit Moltebeerwarenje und Lachs vor.
    Sie begann zu erzählen.
    Von der Petschora, die vor vielen, vielen Jahren bei einer Überschwemmung einmal einem Meer glich, was hat sie da über den riesigen blauen Spiegel gestaunt, wie sie, noch mit dem Großvater, über die Auen und Heuschläge und buschigen Ufergestrüppe hinweg fuhr, als ob sie drüberweggeflogen wären …
    »Großvater, wo ist denn das Ufer?« Es gab kein Ufer, nur das Boot, das über die durchsichtige Bläue glitt, und darin der Großvater und die Enkelin …
    Dann sprach sie von ihrem Mann, der sie aus dem Dorf in die Stadt mitnahm. Sie hat sich wohl nie gefragt, ob sie gut oder schlecht, glücklich oder unglücklich lebten. Das Leben war einfach schwierig, und sie bewältigten das gemeinsam, als ob sie gegen die Strömung anruderten. Die Augen gerieben hat sie sich erst, als es ihn nicht mehr gab. Da begriff sie, dass er der allerliebste, zuverlässigste, nächstvertraute Mensch auf der Welt gewesen war für sie …
    Er arbeitete immer drei Tage am Stück: auf dem Fluss Baken setzen und überprüfen, Fahrwassermarkierungen. Eines Tages ging er wieder auf Schicht. Nahm den Essensbeutel, den sie ihm zurechtgemacht hatte. Verabschiedete sich. Verließ das Haus. Alles wie immer. Aber kaum hatte er die Tür hinter sich zugemacht, da griff es ihr an die Gurgel: Sehnsucht. Sehnsucht nach dem Glück, das für immer vorbei war. Sie rannte ihrem Mann hinterher zum Hafenbüro – aber dort war er nicht mehr. Zum Anleger – auch da nicht. Der Kahn war schon fort auf dem Fluss. Drei Tage später brachten sie ihn, tot. Kurz vorher hatte er über Kopfweh geklagt, dass er einen Druck spürt. Wo er doch früher nie über was geklagt hatte …
    Was ihr übel mitgespielt hat, ihr ein schwaches Herz beschert hat, das war der Tod ihres vierzehnjährigen Jungen, auf den sie lange gewartet hatte und den sie vielleicht umso mehr liebte, als er heranwuchs, da er nach ihr kam: ein schmächtiger, zierlicher Junge. Und dann fing er eines Tages zu husten an: Er hatte in der Petschora gebadet, dann sich mit seinen Freunden am Feuer trocknen lassen, aber dabei gefroren. Sie kriegte ihn nicht kuriert, weil sie zur Arbeit musste, konnte ihn nicht anständig pflegen, ihm bloß Tabletten geben. Im Krankenhaus stellte sich raus, dass er eine Lungenentzündung hatte. Dünner wurde er dort von Woche zu Woche: Weil er so groß war, legten sie den Jungen zu den Erwachsenen, aber die Männer, die rauchten pausenlos, das hat er nicht ertragen. Mama, hat er gesagt, irgendwie gehts mir schlecht, Mama …
    »Schließlich wurden sie auch noch unter Quarantäne gestellt, wegen zwei Bauern oder so, aus Kotkino, die waren anscheinend mit Unterleibstyphus eingeliefert worden. Da bin ich zum Chefarzt, um meinen Jungen zu holen, der ist schon so lang bei Ihnen, sag ich, und immer noch nicht
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