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Die Insel des Magiers

Die Insel des Magiers

Titel: Die Insel des Magiers
Autoren: Tad Williams
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einer Mutter.« Sie sprach mit der Befriedigung eines Alchimisten, dessen Experiment eine große, allgemeingültige Wahrheit bestätigt. »Die Hand einer Mutter.«
    Die Herrin des Hauses wollte das schlafende Kind schon seiner Amme zurückgeben, doch plötzlich besann sie sich und drehte sich zu ihrer Tochter um. »Wie wär’s, wenn du ihn zurückbringen und schlafen legen würdest, Liebes? Er mag dich so sehr. Außerdem ist es auch für dich an der Zeit, ins Bett zu gehen, mein Häschen.«
    Giulietta blickte finster, nahm ihr aber den kleinen Jungen ab. »Ihr meint wohl, es ist an der Zeit für Euch«, murrte sie. »Es ist gerade mal eine Stunde nach Sonnenuntergang.«
    Ihre Mutter widersprach nicht. »Seit dieser letzten Geburt bin ich immer müde. Geh, nimm ihn, Giulietta! Hilf Francesca, ihn zu Bett zu bringen. Das wäre sehr freundlich von dir.«
    Das Mädchen zog ein Gesicht, doch sie hielt das leise durch den offenen Mund schnarchende Kind mit gebührender Vorsicht und schickte sich an, der Amme zu folgen. In der Tür drehte sie sich noch einmal um.
    »Ich werde nicht schlafen gehen, bloß weil Ihr es mir sagt«, erklärte Giulietta in lautem Flüsterton. »Und ich werde nicht Renato Ursino heiraten!«
    Die Mutter winkte sie mit einer sanften, aber bestimmten Handbewegung aus dem Zimmer. »Darüber unterhalten wir uns ein andermal. Sag Amelia bitte, daß ich mich jetzt zur Ruhe begebe.«
    Als die Tür zu war und alle den Raum verlassen hatten, ließ sich Giuliettas Mutter mit einem tiefen Seufzer auf die Kissen zurücksinken, dann drehte sie sich zur Seite und blies die Kerze auf dem Nachttisch aus. Das verglimmende Feuer warf lange Schatten. Der Mond hing knochenweiß im Rahmen des Fensters.

Das Ungeheuer
     
     
     
    Das Echo der Kirchenglocken, die gerade die elfte Stunde geschlagen hatten, hallte noch nach, als die Schlafzimmertür in leisen Angeln aufging. Eine dunkle Gestalt huschte herein und drückte die schwere Tür schnell wieder zu. Die Glut im Kamin malte rote Ränder um alle Dinge.
    Der Schatten trat auf das Bett zu. Lange blieb er bewegungslos stehen und betrachtete die schlafende Frau. Auf einmal, als ob der prüfende Blick bis in ihre Träume gedrungen wäre, öffneten sich ihre flatternden Lider, und die Augen schweiften ungerichtet umher. Dann wurden sie schreckensweit.
    »Was…?« keuchte sie. »Wer…?«
    Eine dunkle Hand schoß unter dem Mantel der Gestalt hervor und hielt ihr den Mund zu. Sie wehrte sich, doch auch mit beiden Händen konnte sie den Krallengriff der Finger nicht lösen.
    Die Gestalt beugte sich näher heran. Die Frau riß die Augen noch weiter auf, und ihre heftige Gegenwehr verstärkte sich. »Ich werde dich loslassen.« Die tiefe Stimme sprach Mailändisch, allerdings mit einer eigenartigen Betonung. Erstaunlicherweise flüsterte der ungebetene nächtliche Besuch nicht, als ob der Mann (eine Frauenkehle hätte gewiß nie einen solchen Rumpelbaß hervorbringen können) keine Angst vor Entdeckung hätte. »Ich werde dich loslassen«, wiederholte er, »und du kannst von mir aus so laut heulen wie ein Orkan. Doch selbst wenn es dir gelingen sollte, jemanden zu wecken, der dir helfen könnte – was ich nicht glaube, denn niemand in Rufweite wäre stark genug –, würdest du dir damit lediglich ein rascheres Ende bereiten.«
    Seine erhobene Hand verschwand im Mantel wie ein schwarzes Kaninchen in seinem Erdbau. Sie rutschte so weit, wie es ging, von dem Eindringling zurück und drückte sich in die Kissen. »Ihr seid aus… Mailand?« Sie brachte vor Atemlosigkeit kaum ein Wort heraus.
    Er lachte, doch es klang gequält. »Du erkennst also deine heimatliche Sprache, aber an mich erinnerst du dich nicht, Miranda? Wahrscheinlich braucht mich das nicht zu wundern.« Er schlug seine Kapuze zurück, und zum Vorschein kam ein zottiger Kopf mit niedriger Stirn, vorgereckt auf einem kurzen Hals, und breite, muskelbepackte Schultern. Seine Haut war braungebrannt und ledrig. Unter wulstigen Stirnhöckern funkelten seine Augen erschreckend gelb wie die einer Eule.
    Miranda führte ihre zitternden Hände zum Gesicht. »Kaliban…?«
    Er lachte abermals rauh und klatschte in die Hände, daß es knallte wie ein Musketenschuß, dann bleckte er seine langen, schiefen Zähne und vollführte ein paar absonderliche Sprünge, dem Tanzaffen eines Bettlers würdig. »Ha! Du erinnerst dich also doch! So lebe ich denn wenigstens als Erinnerung fort.« Er hielt mit dem Springen inne, beugte sich
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